Untergrundkrieg
einen starken Einfluss auf meine Generation. Ich zum Beispiel plane mein Leben entsprechend seiner Prophezeiungen. Ich verspüre den Wunsch, mich umzubringen. Wirklich, ich würde gern sterben. Am liebsten sofort. Aber weil das Ende in zwei Jahren bevorsteht, will ich noch bis dahin durchhalten. Ich möchte mit eigenen Augen sehen, was passiert. Ich interessiere mich für apokalyptische Religionsgemeinschaften. Außer zu Aum habe ich auch Kontakt zu den Zeugen Jehovas. Natürlich erzählen die auch eine Menge Unsinn.
Murakami: Wenn Sie vom »Ende« sprechen, meinen Sie damit, dass unser ganzes gegenwärtiges System untergehen wird?
Ich meine eher, dass es zu so etwas wie einem neuen Start kommen wird. Zumindest wünsche ich mir das für die Menschheit. Ich stelle es mir als eine Katharsis vor, aus der die Seelen gestärkt und stabiler hervorgehen.
»Jeder scheint ein anderes Bild von Meister Asahara zu haben«
Mitsuharu Inaba (geb. 1956)
Herr Inaba ist gegenwärtig noch aktives Mitglied von Aum Shinrikyo. Er lebt mit mehreren Gleichgesinnten in einem einstöckigen Haus in Tokyo. Es gibt nur wenige Hausbesitzer, die überhaupt an Aum-Mitglieder vermieten, aber der Eigentümer dieses Hauses hat viel Verständnis gezeigt: »Wenn Sie sonst keinen Ort haben für Ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft, dann wohnen Sie eben bei mir.« Hinzu kommt, dass sich in Wohnungen, in denen Aum-Anhänger leben, die Kakerlaken sehr stark vermehren. Auch während unseres Gesprächs sah ich ein paar über die Tatami huschen. So etwas stellt für viele Hausbesitzer gewiss ein Problem dar. Die Nachbarn wissen, dass Herr Inaba und seine Mitbewohner Aum-Mitglieder sind, und schneiden sie.
Herr Inaba wurde 1956 in Hokkaido geboren. Er hat einen jüngeren Bruder. Sein Vater war Beamter und wurde häufig versetzt. Herr Inaba scheint ein ganz normales Kind gewesen zu sein, abgesehen davon, dass er von klein auf viel über den Sinn des Lebens nachgrübelte, ein häufiges Verhaltensmuster bei Aum-Mitgliedern. Seine Suche führte ihn von der Philosophie zum Buddhismus, von dort zum tibetischen esoterischen Buddhismus und dann zu Aum. Er war Grund- und Mittelschullehrer. Mit vierunddreißig entsagte er der Welt und wurde Aum-Mönch. Zur Zeit des Sarin-Anschlags arbeitete er im Verteidigungsministerium von Aum und wartete die »Kosmo-Sauger«, von Aum zur Abwehr von Giftgas-Anschlägen erfundene Luftfiltergeräte.
Zurzeit lebt er von dem Nachhilfeunterricht, den er einmal wöchentlich erteilt. Sein Leben ist nicht ganz einfach. »Wissen Sie nicht ein paar Nachhilfeschüler für mich?« , fragte er mich lächelnd. Er ist ein ernster, ruhiger Mann, und ich kann mir gut vorstellen, dass er ein fähiger Lehrer ist. Seine Augen leuchten, wenn er von seinem Unterricht mit den Kindern der Aum-Anhänger spricht.
In seinem Zimmer steht ein kleiner Altar mit Fotos von »Meister Asahara« und dem »Rimpoche«, dem derzeitigen neuen Führer von Aum. 30
Eigentlich wollte ich gar nicht Lehrer werden, aber meine Mutter sagte: »Du kannst ja nichts, also bleibt dir gar nichts anderes übrig.« ( Lacht ) Zwei Jahre lang bereitete ich mich auf die Uni-Aufnahmeprüfungen vor. Ein Jahr davon ging es mir gesundheitlich ziemlich schlecht. In mir tobte so etwas wie ein philosophischer Kampf, und ich war in dieser Zeit sehr unzufrieden. Bei einer ärztlichen Untersuchung stellte sich heraus, dass ich 180 Blutdruck hatte. Also blieb ich zu Hause, um mich zu erholen, und nahm ein blutdrucksenkendes Medikament ein. Ich neigte schon damals zum Grübeln und reagierte sehr empfindlich auf meine Umgebung. Mit »philosophischem Kampf« meine ich das Bewusstsein, bestimmten Ansprüchen nicht genügen zu können, und das damit verbundene Gefühl, ein Versager zu sein, was wiederum in Selbsthass mündete. Ich war eben jung und stur.
Ich studierte für das Lehramt an Grundschulen mit dem Schwerpunkt pädagogische Psychologie. Ich entschied mich für diesen Studiengang, weil ich Kinder gern habe. Dennoch gärte das Problem, was ich mit meiner Kraft und meinem Leben anfangen sollte, ungelöst in mir weiter. Immerhin hatte ich die Hoffnung, von den Kindern etwas lernen zu können. Ich würde zwar unterrichten, aber gleichzeitig selbst etwas lernen.
Als ich mit der Uni fertig war, fand ich eine Anstellung an einer Grundschule in der Präfektur Kanagawa. Hokkaido zu verlassen fiel mir nicht schwer, denn an Umzüge war ich gewöhnt. Und Freunde konnte ich überall finden.
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