Untergrundkrieg
ihn.
Neben der Arbeit führte ich meine asketischen Übungen weiter und machte große Fortschritte. Inzwischen war ich imstande, Dinge wie den Grad meiner Begierden oder der augenblicklich verfügbaren Energien so klar zu beurteilen, dass ich den Inhalt meiner Übungen darauf abstimmen konnte. Ich brauchte vier Jahre, um zur Befreiung zu gelangen.
Murakami: Wurde diese Befreiung vom Meister bestätigt?
Ja. Um Befreiung zu erlangen, musste man viele Bedingungen erfüllen, und am Schluss bestimmte der Erleuchtete Meister, ob jemand tatsächlich so weit war. Im Allgemeinen erlangte man Befreiung mitten in einer konzentrierten, intensiven Übung. Es gibt eine extreme Übung, durch die man zur Befreiung gelangt. Während dieser Übung hat man viele mystische Erscheinungen, und wenn sie ausreichen und noch etwas dazukommt, wird der Geist klar und man hat die Ebene der Erleuchtung erlangt.
Erst danach erhält man einen heiligen Namen.
Murakami: Sie haben schon in Ihrer Kindheit mystische Träume gehabt und Astralleibprojektionen erlebt. Was wurde daraus, als sie Nonne bei Aum wurden?
Meine Spiritualität steigerte sich, und ich erlebte noch merkwürdigere Dinge. Aber im Vergleich zu vorher hatte ich größere Kontrolle über sie. Ich konnte mich an meine früheren Leben erinnern und auch erkennen, in welche Welten Menschen, die ich kannte, als Nächstes wiedergeboren würden. Manchmal überkam mich blitzartig eine Erleuchtung: »Das ist mein früheres Leben!«
In meinem früheren Leben war ich ein Mann. Wenn ich an meine Kindheit zurückdachte, fügten sich die Teile Stück für Stück zusammen und ergaben ein Bild. Als ich klein war, wurde ich oft für einen Jungen gehalten. Das fand ich immer sehr eigenartig, aber als mir bewusst wurde, dass ich in meinem früheren Leben ein Junge gewesen war, begriff ich es.
Murakami: Gibt es noch andere Dinge, die Sie erkannt haben, abgesehen von Ihrem Geschlecht? Zum Beispiel ein Verbrechen in einem früheren Leben, das Ihr jetziges Leben beeinflusst?
Ja. In meiner Kindheit hatte ich glückliche Erlebnisse, aber auch schmerzhafte. Die waren die Folge von etwas Schlechtem, das ich früher getan habe.
Murakami: Ich möchte nicht spitzfindig sein, aber ist das nicht mehr oder weniger bei jedem so? Jeder Mensch macht doch unangenehme und schmerzhafte Erfahrungen, ohne dass das etwas mit Spiritualität und Wiedergeburt zu tun hat.
Ja, schon. Aber wenn man solche Erlebnisse bereits als kleines Kind hat, wenn gute oder schlechte Umstände im Leben noch fast keine Rolle spielen, müssen es doch Teile einer früheren Existenz sein, die mit in das gegenwärtige Dasein hinübergezogen wurden.
Murakami: Auch auf einer Stufe, auf der ein Kind noch kaum Erfahrungen mit der Wirklichkeit hat, kann es doch bereits Unangenehmes erleben. Es hat Hunger, kriegt aber nichts zu essen; es möchte von seiner Mutter getragen werden, aber sie tut es nicht. Das hat doch nichts mit einem früheren Leben oder mit Schuld zu tun. Je nach Alter gibt es da sicher Unterschiede, aber »Schmerz« ist meiner Ansicht nach nichts anderes als unbewältigte diesseitige Realität.
Aber Schmerz ist nicht immer so eindeutig.
Als der Sarin-Anschlag [im März 1995] passierte, bereitete ich wie immer in Satyam 6 die Opfergaben vor. Ich habe von anderen Mitgliedern davon erfahren. In Tokyo sei etwas passiert, und Aum solle es getan haben, erzählten sie mir. Ich habe zuerst überhaupt nicht geglaubt, dass Aum auch nur das Geringste damit zu tun haben könnte.
Zuvor hatte es geheißen, in den Gebäuden von Kamikuishiki sei Sarin freigesetzt worden. Das bedeutete, man hatte einen Anschlag auf uns verübt. Das habe ich tatsächlich geglaubt, denn viele von uns wurden damals krank, ich auch. Ich hustete und spuckte Blut. Manchmal ging es mir so schlecht, dass ich im Bett bleiben musste. Blutiger Schleim kam aus meiner Lunge, ich litt unter Kopfschmerzen und Übelkeit und wurde sehr schnell müde. Darum war ich überzeugt, dass wir diejenigen waren, auf die ein Giftgas-Anschlag verübt worden war, sonst wären ja nicht so viele Leute gleichzeitig krank geworden. Das war noch nie vorgekommen.
Ich war entsetzt, als die Polizei die Gebäude durchsuchte. Wir hatten doch nichts verbrochen. Ich fand es zu einseitig, uns als Übeltäter zu beschuldigen. Satyam 6 und die Räume, in denen wir die Opfer zubereiteten, wurden komplett durchsucht, wir durften nicht weiterkochen, sodass wir keine Mahlzeiten an die Samana ausgeben
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