Untergrundkrieg
Seinem Anwalt zufolge ist ja auch noch nicht bewiesen, dass er diese Dinge wirklich angeordnet hat.
Murakami: Sie wollen sagen, dass Sie sich Ihr Urteil bis zum Schluss vorbehalten?
Ich sage ja nicht, dass es völlig unmöglich ist. Aber in dieser Phase ist es noch zu früh, das zu entscheiden. Bevor nicht alle Tatsachen auf dem Tisch sind, kann ich nicht Stellung nehmen.
Murakami: Sie sagten, Ihre Eltern haben Ihnen das Geld für die Bäckerei gegeben. Das heißt, Sie haben weiterhin eine gute Beziehung zu ihnen?
Ja, nachdem ich Erleuchtung erlangt hatte, habe ich sie besucht und manchmal angerufen. Es war nie die Rede davon, dass sie mich enterben wollten oder so. Sie sagen, ich kann jederzeit wieder zu ihnen kommen, wenn ich will. Aber ich kann kein weltliches Leben mehr führen. Es wäre vielleicht anders, wenn es etwas Verlockendes für mich bereithielte, wenn ich mich verbessern könnte, aber im Augenblick ist das nicht so. Das habe ich nur bei Aum gefunden.
In den sieben oder acht Jahren, die ich bei Aum gelebt habe, hatte ich manchmal auch Zweifel. Als stiegen in der Askese meine Unreinheiten an die Oberfläche. Bei den Übungen dringt man sehr tief in sich ein und wird mit den eigenen Mängeln, Begierden und so weiter konfrontiert. Die meisten Leute täuschen sich mit Alkohol oder Vergnügungen darüber hinweg, aber wir, die wir Askese üben, können das nicht. Wir müssen uns unseren Schwächen stellen und sie überwinden, auch wenn es mühsam ist. Aber trotz aller Zweifel habe ich eine Ebene erreicht, auf der ich weiß, dass ich meine Übungen fortsetzen muss. Tatsächlich habe ich kein einziges Mal ernsthaft in Erwägung gezogen, wieder ein weltliches Leben aufzunehmen.
Meine Freundin aus der Mittelschule, die zur gleichen Zeit wie ich Aum-Mitglied geworden ist, ist ebenfalls geblieben und macht weiter ihre Übungen. Mein ältester Bruder ist kurz vor dem Anschlag nach Hause zurückgekehrt. Vielleicht hat er sich von den Unreinheiten besiegen lassen, die während der Askese zutage treten. Wenn man die nicht überwindet, wird man nie Befreiung erlangen.
»Das wäre mein sicherer Tod, dachte ich«
Shin’ichi Hosoi (geboren 1965)
Herr Hosoi stammt aus Sapporo. Nach der Schule ging er nach Tokyo auf eine Kunstschule, um Cartoonist zu werden, gab aber nach einem halben Jahr auf. Während er sich mit Aushilfsjobs durchschlug, stieß er auf Aum und wurde Mitglied. Er arbeitete in der Aum-Druckerei und später in der Zeichentrickabteilung, wo ihm seine zeichnerischen Fähigkeiten zugute kamen; schließlich arbeitete er als Schweißer im Ministerium für Wissenschaft und Technik. 1994 wurde er in den Rang eines Meisters befördert. Unter anderem war er auch mit der Einrichtung gewisser Teile des Chemielabors betraut, das an Satyam 7 angeschlossen war. Zu asketischen Übungen hatte er nur wenig Gelegenheit, da er meist zu beschäftigt war. Immerhin hat er viele praktische Erfahrungen gesammelt.
Nach der polizeilichen Durchsuchung der Aum-Einrichtungen erfuhr er, dass Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war, und er stellte sich freiwillig. Nach dreiundzwanzig Tagen Untersuchungshaft wurde die Anklage fallen gelassen. Während seiner Haft schickte er eine schriftliche Austrittserklärung an Aum. Danach zog er sich zeitweilig nach Sapporo zurück, lebt aber heute wieder in Tokyo. Bei unserem Gespräch zeigte er mir einige Zeichnungen vom Leben im Satyam.
Inzwischen gehört er der von ehemaligen Aum-Mitgliedern gegründeten Kanariya no kai an, der »Gesellschaft der Kanarienvögel«, an, die Aum Shinrikyo und Shoko Asahara sehr kritisch beurteilt.
In der Grundschule hatte ich eine ziemlich harte Zeit. Mein älterer Bruder war geistig behindert und besuchte eine Sonderschule. Die anderen Kinder zogen mich oft mit ihm auf, und ich fühlte mich ziemlich elend.
Seit ich denken kann, hat meine Mutter sich fast nur um meinen Bruder gekümmert. Mich hat sie kaum beachtet, und ich war viel allein. Ich kann mich noch sehr gut an die Zeit erinnern, als ich die Aufmerksamkeit meiner Mutter gebraucht hätte, sie aber nicht bekam. Wenn ich etwas wollte, hieß es immer: »Schau mal, dein Bruder ist doch so arm dran, da musst du ein bisschen zurückstehen.« Vielleicht brachte mich das dazu, meinen Bruder zu hassen.
Wahrscheinlich war ich ein ziemlich trübsinniges Kind, besonders, als mein Bruder an Hepatitis B starb. Ich war damals vierzehn, und der Schock war groß. Im Grunde meines Herzens hatte ich mir immer
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