Untergrundkrieg
Aum-Mitglieder.
Als Student war ich eigentlich kreativ und lebhaft, aber in mir tobten heftige Widersprüche, und zwischen meinem inneren und äußeren Wesen herrschte eine tiefe Diskrepanz. Nach außen war ich fröhlich und temperamentvoll und hatte viele Freunde; wenn ich jedoch allein in meinem Zimmer war, überfiel mich eine tiefe Einsamkeit, als hätte ich keinen einzigen Freund auf der Welt.
Schon in meiner Kindheit hatte ich solche Empfindungen. Ich weiß noch, dass ich mich vor meinen Eltern oft im Wandschrank versteckte, weil mir mein Zimmer nicht privat genug war. Der Wandschrank war für mich der einzige Zufluchtsort, wo wirklich Ruhe und Frieden herrschten. Natürlich ist das bei einem Kind ziemlich eigenartig, aber in der Schwärze des Wandschranks wurde mein Bewusstsein messerscharf – im Dunkeln ist man nur mit sich selbst konfrontiert. Ich fühlte mich also schon früh zu etwas hingezogen, das den Aum-Klausuren glich.
In der Mittelschule hörte ich gerne Rockmusik wie The Wall von Pink Floyd. Das zieht einen so richtig schön runter ( lacht ). Von Gurdjieff erfuhr ich über King Crimson. Bei King Crimson gab es den Gitarristen Fripp, und der war Gurdjieff-Jünger. Nachdem er an Gurdjieff geraten war, änderte sein Stil sich drastisch. Ich glaube, diese Musik hatte großen Einfluss auf meine Weltsicht.
Auf der Oberschule trieb ich intensiv Sport – Badminton und Basketball. Aber als ich auf die Uni kam, hatte ich das Gefühl, ich müsse eine Grenze zwischen mir und der Gesellschaft ziehen. Ich war ein so genannter »Moratoriumstyp« – jemand, der nicht erwachsen werden möchte. Ich bin in einem Japan herangewachsen, das bereits wohlhabend war. Meine Generation stand nicht unter dem Druck, schnell erwachsen zu werden, sondern betrachtete die ihr fremde »Gesellschaft der Erwachsenen« eher mit Misstrauen. Es musste doch eine andere Art zu leben geben, eine andere Art, die Welt zu sehen. Am Anfang meines Studiums hatte ich viel Zeit, und diese Fragen beschäftigten mich sehr.
In der Jugend gehen einem viele solche Dinge durch den Kopf. Die eigene Unreife erkennt man erst, wenn man mit den Ansprüchen des Erwachsenenalltags konfrontiert wird. Ich fühlte mich sehr frustriert.
Aus innerer Unruhe interessierte ich mich für alles Mögliche. Von irgendwoher musste doch die Energie zum Leben kommen! Obwohl die Welt voller Leid und die Gesellschaft voller Widersprüche war. Ich begann eigene Vorstellungen von einer idealen Gesellschaft zu entwickeln und beschäftigte mich mit Utopien. Dadurch wurde ich anfällig für religiöse Sekten mit ähnlichen Idealvorstellungen.
Im Zusammenhang mit Aum heißt es häufig, gestörte Familienbeziehungen trieben Jugendliche in Sekten; aber diese Erklärung kommt mir zu einfach vor. Ich will nicht leugnen, dass ein Teil der Anziehungskraft, die Aum auf junge Leute ausübt, mit ihren Frustrationen und Problemen in der Familie zu tun hat, aber ein weit wichtigerer Faktor scheint mir das allgegenwärtige apokalyptische Klima zu sein, das Gefühl, das Ende der Welt stehe in Kürze bevor. Wenn man dieses Klima – das sich nicht nur in Japan, sondern weltweit ausgebreitet hat – berücksichtigt, dann kann man die Anziehungskraft, die Aum für so viele besaß, nicht mehr nur mit Familienproblemen erklären.
Murakami: Darf ich Sie einen Moment unterbrechen? Alle Japaner leben also mit der Vorstellung, das Ende der Welt stehe bevor?
Alle vielleicht nicht, das hieße allzu sehr zu generalisieren. Aber ich bin schon der Ansicht, dass alle tief in ihrem Innern so etwas wie ein Endzeitgefühl – und sei es nur in Form einer vagen, unbewussten Angst – verspüren. Nur die Intensität dieses Gefühls unterscheidet sich. Für einige hat sich der Schleier gelüftet, hinter dem sich das Ende im Dunkel verbirgt, während andere noch mit diesem Schleier leben. Ohne ihn hätten alle Angst vor dem, was in naher Zukunft geschehen könnte. Die Gesellschaft bildet das Fundament unseres Daseins, aber man weiß nicht, wie sie sich entwickeln wird. Meiner Ansicht nach nimmt diese Verunsicherung proportional mit dem Wohlstand einer Gesellschaft zu – wie ein wachsender dunkler Schatten.
Murakami: Dennoch scheinen mir da die Begriffe »Verfall« oder »Niedergang« besser zu passen als »Ende«.
Mag sein. Andererseits kann ich mich noch gut daran erinnern, dass während meiner Schulzeit die Prophezeiungen des Nostradamus sehr populär waren, und diese Endzeitstimmung hat sich damals
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