Untergrundkrieg
hätten nicht gewagt, sich zu weigern, weil sie fürchteten, ermordet zu werden. Meinen Sie, das war wirklich so?
Tja – wer weiß? Aber eigentlich kann ich mir eher vorstellen, dass unter den gegebenen Umständen alle stolz waren, weil man sie ausgewählt hatte.
Murakami: Sie führen jetzt wieder ein normales Leben und haben eine Arbeit. Sie sagten, dass Sie früher viel gegrübelt haben, weil Sie der Meinung waren, sich durch nichts von der Masse abzuheben. Wie ist das jetzt?
Ach, ich habe mich eigentlich damit abgefunden und meine, man kann auch so leben. Viele von den Schwierigkeiten, die ich früher hatte, sind verschwunden. Bevor ich zu Aum kam, konnte ich auch Freunden gegenüber meine Gefühle nur schwer äußern und auch meine Schwächen nicht zeigen. Inzwischen kann ich das sehr gut.
Meine Verwandten haben schon einige Rendezvous für mich arrangiert. Sie finden, es sei allmählich Zeit für mich zu heiraten. Aber ich finde, Menschen, die Mitglied einer Sekte waren, die solch abscheuliche Verbrechen begangen hat, sollten nicht heiraten. Natürlich habe ich selbst nicht direkt etwas verbrochen, aber ich habe dort zumindest mein Bestes gegeben.
Diese Gedanken machen mich oft traurig. Besonders letztes Jahr war das so. Ich gehe mit Freundinnen essen und amüsiere mich, aber meistens gehe ich nach der Arbeit einfach allein nach Hause. Als ich im letzten Sommer das Feuerwerk zu Obon gesehen habe, musste ich weinen. Aber ich glaube, das habe ich jetzt hinter mir.
Viele von den Menschen, die ich bei Aum kennen gelernt habe, waren sehr sympathisch. Ganz anders als die Leute, die ich sonst kannte. Die zwischenmenschlichen Beziehungen in der normalen Gesellschaft sind immer so oberflächlich, aber bei Aum lebten alle zusammen wie in einer Familie.
Ich habe Kinder sehr gern und bin ganz vernarrt in die meiner jüngeren Schwester. Aber wie kann ich als ehemaliges Aum-Mitglied jemals heiraten, eine Familie gründen und Kinder bekommen? Wenn ich nur daran denke, dass ich einem Partner von Aum erzählen müsste … Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass mein eigenes Elternhaus nicht glücklich war. Menschen, die in funktionierenden Familien aufwachsen, treten wahrscheinlich nicht in Sekten wie Aum ein.
»Wenn ich Asaharas Verhalten im Gerichtssaal beobachte, wird mir schlecht«
Hideyoshi Takahashi (geboren 1967)
Herr Takahashi ist in Tachikawa-shi im Großraum Tokyo geboren. Er hat an der Shinshu-Universität Geologie studiert und in geodätischer Astronomie promoviert. Den Sternenhimmel durch ein Teleskop zu betrachten hat ihn schon in der Grundschule fasziniert. Der Sarin-Anschlag versetzte ihm einen großen Schock, und er verließ Aum. Später ist er im Fernsehen und anderen Medien mit seiner Kritik an Aum hervorgetreten. Darüber hinaus hat er ein Buch mit dem Titel »Meine Rückkehr von Aum« geschrieben, in dem er die Umstände seines Eintritts in die Sekte ausführlich schildert und erklärt, warum er sie wieder verließ.
Herr Takahashi lernte Shoko Asahara während seines Studiums kennen, als dieser einen Vortrag an der Shinshu-Universität hielt. Später wurde Takahashi von Yoshihiro Inoue zum Beitritt überredet; allerdings nahm ihn sein Studium damals so in Anspruch, dass er erst einmal wieder austrat. Aber es gelang ihm nicht, sich ganz auf sein »weltliches« Studium zu konzentrieren, und er wurde erneut Mitglied bei Aum. Dieses Mal legte er auch gleich die Gelübde ab. Das war kurz vor dem Sarin-Anschlag des Jahres 1994 in Matsumoto.
Er wurde dem Ministerium für Wissenschaft und Technik zugeteilt, das Hideo Murai unterstand, und erhielt von Asahara persönlich die Anweisung, Computersoftware zur Vorhersage von Erdbeben zu entwickeln. Die von ihm gesammelten Daten deuteten tatsächlich auf das Erdbeben von Kobe hin, und Asahara belobigte ihn für seine Arbeit.
Herr Takahashi drückt sich sehr klar und deutlich aus – eine Eigenschaft, die viele ehemalige Mitglieder von Aum gemeinsam haben –, und was ihm nicht schlüssig oder logisch erscheint, lehnt er ab. Aus diesem Blickwinkel muss einem die Welt als unübersichtlicher Ort voller Widersprüche und Chaos erscheinen, in dem es sich schwer leben lässt.
Inzwischen arbeitet Herr Takahashi bei einer Vermessungsfirma und führt ein ganz normales Leben. Dennoch hat er sich geschworen, so viel Zeit wie möglich der Erforschung des Phänomens Aum Shinrikyo zu widmen; daher besucht er auch regelmäßig die Gerichtsverhandlungen gegen
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