Untergrundkrieg
seltsamen beißenden Geruch wahr. In der Bahn riecht es ja oft komisch. Ich weiß noch, dass eine Frau mir gegenüber sich ein Taschentuch vor die Nase hielt, aber sonst war nichts Außergewöhnliches zu bemerken. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das wirklich der Geruch von Sarin war. Da bin ich erst später draufgekommen.
Wir kamen in Shinjuku-Gyoenmae an, und ich machte mich auf den Weg in die Firma. Als ich ausstieg, war es merkwürdig finster, als wären alle Lampen ausgeschaltet worden. Ich hatte bei strahlend schönem Wetter das Haus verlassen, aber als ich jetzt aus der U-Bahn kam, wirkte es ganz trüb. Ich dachte, das Wetter hätte sich verschlechtert, aber als ich in den Himmel schaute, war nicht eine Wolke zu sehen. Zu der Zeit nahm ich ein Medikament gegen Heuschnupfen, und ich dachte, das könnte mein Sehvermögen beeinträchtigt haben.
Ich kam in der Firma an, aber es blieb dunkel. Außerdem fühlte ich mich so schlapp, dass ich mich nur an den Schreibtisch setzen und aus dem Fenster starren konnte. Nach der Besprechung gingen wir alle zum Essen. Um mich herum war es immer noch dunkel, und ich hatte keinen Appetit. Mir war auch nicht danach, mich zu unterhalten, also aß ich schweigend. Da brach mir auf einmal der kalte Schweiß aus. In dem Nudellokal lief der Fernseher, und es wurde pausenlos über den Sarin-Anschlag berichtet. Meine Kollegen zogen mich auf: »Vielleicht ist es eine Sarin-Vergiftung.« Aber ich wusste ja, dass es an dem Heuschnupfenmittel lag, und lachte mit ihnen.
Am Nachmittag wurde die Besprechung fortgesetzt, aber meine Beschwerden besserten sich nicht. Es ging mir so schlecht, dass ich beschloss, mich von einem Spezialisten für Heuschnupfen untersuchen zu lassen, und die Besprechung gegen zwei Uhr verließ. Inzwischen war mir der Gedanke gekommen, dass es vielleicht doch mit Sarin zusammenhängen könnte.
Trotzdem suchte ich keines der Krankenhäuser in der Nähe auf, sondern ging zu meinem Hausarzt, der mir das Heuschnupfenpräparat verschrieben hatte. Dazu musste ich den ganzen Weg nach Yokohama zurückfahren. Als er hörte, dass ich mit der U-Bahn gefahren war, bevor die Symptome aufgetreten waren, untersuchte er meine Pupillen und ordnete meine sofortige Einweisung ins Krankenhaus an.
Er brachte mich im Krankenwagen in die Städtische Universitätsklinik von Yokohama. Ich konnte ohne Hilfe aus dem Krankenwagen aussteigen und gehen, weil meine Symptome noch nicht so stark waren. Aber in der Nacht bekam ich Kopfschmerzen. Nach zwölf, mitten in der Nacht. Es war ein dumpfer, anhaltender Schmerz. Ich rief sofort nach der Schwester, und sie gab mir eine Spritze. Es war kein stechender Schmerz, sondern er umschloss hart wie eine Schraubzwinge meinen Kopf. Er dauerte nur eine Stunde an, aber ich rechnete mit dem Schlimmsten. Als der Schmerz nachließ, schöpfte ich jedoch wieder Hoffnung und dachte, es werde sich schon bessern.
Die Augentropfen, die sie mir gegeben hatten, um meine Pupillen wieder zu erweitern, wirkten ein bisschen zu gut. Als ich am nächsten Tag aufwachte, waren sie so stark erweitert, dass mich alles blendete … Also spannten sie Papier um mein Bett, um das Licht abzuhalten. Deshalb dauerte es noch einen Tag, bis meine Pupillen wieder normal waren.
Am Vormittag brachte mir meine Familie die Zeitung, aber ich konnte sie noch nicht selbst lesen. Ich erfuhr, wie furchtbar der Anschlag gewesen war. Es hatte Tote gegeben. Ich hätte auch ums Leben kommen können. Doch seltsamerweise erschien mir die Gefahr, in der ich geschwebt hatte, nicht als real. Ich konnte nur daran denken, dass mit mir alles in Ordnung war. Ich war mittendrin gewesen, aber statt zu erschauern, als ich von den Todesfällen hörte, kam es mir vor, als sähe ich eine Sendung im Fernsehen, als hätte das alles nichts mit mir zu tun.
Erst sehr viel später fragte ich mich, wie ich so gefühllos hatte sein können. Ich glaube, erst im Herbst fing ich an, allmählich zu begreifen.
Murakami: Was meinen Sie konkret mit »gefühllos«?
Zum Beispiel, wenn vor mir ein Mensch zu Boden stürzt, würde ich ihm helfen, so hoffe ich zumindest. Aber ich überlege mir, ob ich auch helfen würde, wenn das Gleiche etwas weiter weg, sagen wir fünfzig Meter von mir entfernt, passieren würde. Vielleicht würde ich denken, dass es mich nichts angeht, und einfach weitergehen. Damit ich nicht zu spät zur Arbeit komme oder so … Das meine ich.
Nach dem Krieg hat unsere Wirtschaft geboomt, und wir haben
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