Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
überhaupt kein Gefühl für Not mehr. Nur noch materielle Dinge zählen. Das Gefühl, dass man anderen Menschen kein Leid zufügen darf, ist nur noch schwach ausgeprägt. Das ist alles schon einmal gesagt worden, aber es verfolgt mich. Wie kann man mit so einer Einstellung Kinder erziehen? Das meine ich mit gefühllos.
    Komischerweise war ich im Krankenhaus, wo alle in hellster Aufregung herumrannten, überhaupt nicht panisch, eher zu gelassen. Auch wenn zum Beispiel jemand einen dummen Witz über Sarin losließ, machte mir das überhaupt nichts aus. So wenig bedeutete mir das. Im Sommer hatte ich fast vergessen, dass so etwas wie ein Sarin-Anschlag überhaupt stattgefunden hatte. Wenn ich in der Zeitung etwas über Schadensersatzforderungen von Opfern las, dachte ich: »Ach, das schon wieder.« Als hätte die ganze Sache nichts mit mir zu tun.
    Übrigens bin ich der Ansicht, dass das Individuum auch in der japanischen Gesellschaft einen stärkeren Stellenwert bekommen muss. Ich arbeite seit zwölf Jahren für die gleiche Firma und kenne mich deshalb mit diesem Phänomen aus. Trotz all dieser brillanten Köpfe hat Aum auch nichts Besseres zustande gebracht, als sich in eine Art Massenterrorismus zu stürzen. So schwach ist bei uns das Individuum.

»Alles hat damit angefangen, dass mein Bus zwei Minuten früher kam«
Kenji Ohashi (41)
 Erstes Interview

    Herr Ohashi arbeitet seit 22 Jahren bei einem großen Autohändler und leitet gegenwärtig das Servicecenter seiner Firma im Bezirk Ota.
    Zur Zeit des Anschlags war das große neue Kundendienst-Center noch nicht ganz fertig, und er arbeitete in einem provisorischen Büro in Honancho im Bezirk Suginami. Herr Ohashi war auf der Fahrt zum Büro in Honancho in der Marunouchi-Linie dem Sarin ausgesetzt.
    Herr Ohashi ist ein alter Hase in der Autobranche und arbeitet seit langem in der Kundenbetreuung. »Meine Arbeit ist so ähnlich wie die eines Hotelportiers« , sagt er. Ursprünglich war er Mechaniker, ein solider Mann, der sich hochgearbeitet hat. Über den Anschlag spricht er in seiner wohlüberlegten, aufmerksamen Art. Mit seinem kurzen Haar und dem robusten Körperbau ist er das Abbild eines arbeitenden Mannes. Er ist ein eher schweigsamer Mensch.
    Er wohnt in Edogawa, ist seit zehn Jahren verheiratet und hat drei Kinder. Ein Jahr vor dem Anschlag hatte die Familie ein neues Haus bezogen, und er hatte das Büro gewechselt.
    Herr Ohashi leidet immer noch stark unter den Folgen seiner Vergiftung, hat sich aber einer Selbsthilfegruppe angeschlossen und nimmt aktiv an deren Aktionen teil. Er ist dabei, ein Selbsthilfenetz aufzubauen, das die Betroffenen verbindet. Nach unserem anderthalbstündigen Gespräch quälten ihn starke Kopfschmerzen. Daher möchte ich mich bei ihm entschuldigen und ihm meinen tiefen Dank für sein Entgegenkommen ausdrücken.

    Ich bin immer von Koiwa mit JR nach Yotsuya gefahren, um nach Nakano zu kommen. Von zu Hause habe ich den Bus zum Bahnhof Koiwa genommen oder bin mit dem Rad gefahren, meist aber mit dem Bus.
    Am 20. März, also dem Tag des Anschlags, bin ich wie immer um kurz nach sieben aus dem Haus gegangen. Aber wie es der Zufall wollte, kam der Bus zwei Minuten zu früh. Normalerweise kam er immer später, aber diesmal eben früher. Ich rannte, aber ich erwischte ihn nicht mehr und musste auf den nächsten Bus um halb acht warten. Als ich in Yotsuya ankam, hatte ich schon zwei U-Bahnen verpasst. Im Grunde ist mir das alles nur passiert, weil der Bus zwei Minuten zu früh abgefahren ist. So ein Pech habe ich noch nie gehabt. Davor bin ich immer ganz pünktlich hin- und hergependelt.
    Ich steige in der Marunouchi-Bahn meist in den dritten Wagen von vorn ein. Auch an dem Tag. Von dort hat man die beste Aussicht. Wenn man über die Dächer guckt, sieht man die Sportplätze der Sophia-Universität. Das ist wie eine erfrischende Brise. Der dritte Wagen war so leer wie sonst nie. In Yotsuya wird es für gewöhnlich so voll, dass man fast nie einen Sitzplatz kriegt. Man kann nur hoffen, dass es danach irgendwann klappt. Aber an dem Tag waren nicht mehr als zehn Leute im Wagen. Da hatte ich bereits das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
    Schon beim Einsteigen fielen mir zwei Personen in seltsamer Haltung auf. Ein Mann hing völlig zusammengekrümmt auf seinem Sitz, und eine Frau kauerte am Boden. Sie hatte sich mit eingezogenem Kopf zusammengerollt. Außerdem roch es ganz komisch. Am Anfang dachte ich, ein Betrunkener hätte sich erbrochen

Weitere Kostenlose Bücher