Untergrundkrieg
Examen in angewandter Physik ab. Er war ein mustergültiger Student, der 1989 sein Doktorandenstudium abschloss, illustre Stellenangebote ablehnte und stattdessen der Welt entsagte.
Er wurde ein wichtiges Mitglied der »Chemie-Brigade« im Aum-Ministerium für Wissenschaft und Technik. Zusammen mit seinem Komplizen Masato Yokoyama war Hirose eine Schlüsselfigur in Aums geheimem Plan, eine vernichtende Laserwaffe zu entwickeln. Er ist groß und wirkt ernst, sieht aber trotz seiner zweiunddreißig Jahre eher wie ein Junge aus. Seine Aussagen vor Gericht bringt er bedächtig, ruhig und sachlich vor.
Am Morgen des 18. März erhielt Hirose von seinem Vorgesetzten Hideo Murai den Befehl, Sarin in einer U-Bahn freizusetzen. »Als ich das hörte, erschrak ich, weil ich an die vielen Opfer dachte. Andererseits war mir auch klar, dass ich mit der Lehre nicht genug vertraut war, um mir solche Gedanken erlauben zu dürfen«, erklärte er vor Gericht. Angesichts der Schwere seiner Aufgabe empfand er als Mensch einen »starken instinktiven Widerstand«, aber seine Treue zu den Lehren der Sekte überwog. Jetzt sieht er seinen Irrtum ein, behauptet aber, er habe zu jenem Zeitpunkt keine realistische Möglichkeit gehabt, sich dem Befehl von oben – also Asaharas Befehl – zu verweigern.
Hirose wurde der Auftrag zuteil, an der Station Ikebukuro in den zweiten Wagen eines Marunouchi-Zuges in Richtung Ogikubo einzusteigen, an der Haltestelle Ochanomizu, Löcher in zwei Pakete Sarin zu stechen und sich dann von Kitamura draußen mit dem Auto abholen zu lassen. Die Nummer des Zuges war A 777. Detaillierte Anweisungen erhielt Hirose von seinem »Älteren Bruder« Yasuo Hayashi. Noch vor Tagesanbruch wurde in Kamikuishiki trainiert, und Hirose durchstach seine Beutel mit so viel Kraft, dass er seine Schirmspitze verbog.
Am Morgen des 20. März verließen Hirose und Kitamura das Ajid in Shibuya und fuhren mit dem Auto zum Bahnhof Yotsuya. Dort fuhr Hirose mit einer Bahn der Marunouchi-Linie nach Shinjuku und stieg dort in die Saikyo-Linie nach Ikebukuro um. Er kaufte sich an einem Bahnhofskiosk eine Sportzeitung und wickelte seine Sarin-Beutel darin ein. Als die Zeit gekommen war, stieg er in den entsprechenden Marunouchi-Zug und stellte sich vor die mittlere Tür des zweiten Wagens. Als er sich anschickte, die Beutel zu durchstechen, raschelte das Zeitungspapier so laut, dass ein Schulmädchen aufmerksam wurde – oder zumindest bildete Hirose sich das ein.
Er konnte die Spannung nicht mehr ertragen und stieg in Myogadani oder Korakuen aus. Als er auf dem Bahnsteig stand, überkam ihn heftiges Entsetzen über das, was er zu tun im Begriff war. »Ich hätte am liebsten den Bahnhof verlassen, ohne etwas zu tun«, sagte er und gab zu, er habe »die Menschen, die einfach so aussteigen konnten, unheimlich beneidet«. Im Nachhinein gesehen, war das ein schicksalhafter Augenblick. Hätte er jetzt den Bahnhof verlassen, wäre Hunderten von Menschen großes Leid erspart geblieben.
Aber Ken’ichi Hirose biss die Zähne zusammen und rang seine Zweifel nieder. »Es geht um nichts Geringeres als die Erlösung«, sagte er sich. Es ging allein um die Tat, und außerdem war er auch nicht der Einzige, die anderen taten ja in diesem Augenblick genau das Gleiche. Er durfte sie nicht im Stich lassen. Hirose stieg wieder in den Zug. Aber weil ihn die neugierige Mittelschülerin beunruhigte, nahm er jetzt den dritten Wagen. Als sich der Zug der Haltestelle Ochanomizu näherte, nahm er die Beutel mit Sarin aus seiner Tasche und ließ sie unauffällig zu Boden gleiten. Dabei löste sich das Zeitungspapier, und der Plastikbeutel wurde sichtbar, doch er merkte es gar nicht. Er hatte auch gar keine Zeit dazu, denn er wiederholte unablässig ein Aum-Mantra, um sich zu ermutigen. Als der Zug in Ochanomizu ankam und die Türen sich öffneten, stach er wie in Trance mit seiner Schirmspitze in die Beutel.
Ehe er zu Kitamura in den wartenden Wagen stieg, wusch er die Schirmspitze mit Wasser aus einer Plastikflasche ab und warf ihn in den Kofferraum. Obwohl er sich sehr in Acht genommen hatte, zeigte Hirose selbst bald eindeutige Symptome einer Sarin-Vergiftung. Er sprach mit schwerer Zunge und bekam kaum Luft. Sein rechter Oberschenkel zuckte unkontrolliert.
Eilig injizierte sich Hirose das Atropinsulfat, das er von Ikuo Hayashi erhalten hatte. Als Naturwissenschaftler war Hirose die Gefährlichkeit von Sarin von Anfang an bekannt gewesen, aber es war noch
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