Untergrundkrieg
»Ich fühle mich nicht gut. War irgendetwas los in der U-Bahn?« »In Hatchobori ist anscheinend etwas explodiert«, antwortete er. »Aber mit der Bahn, mit der ich gerade gefahren bin, war auch etwas nicht in Ordnung«, sagte ich. »Da ist nur Benzin vergossen worden«, erklärte man mir. Eine völlig falsche Information. Also ging ich ins Büro des Bahnhofsvorstehers. »Mir geht es schlecht. Ich kann kaum etwas sehen«, sagte ich. Aber die Nachricht hatte den Bahnhof Omotesando noch überhaupt nicht erreicht. »Bitte nehmen Sie Platz und ruhen Sie sich etwas aus. Möchten Sie vielleicht etwas Kaltes trinken?« Alle waren sehr freundlich, aber sie wussten nicht Bescheid.
Ich gab es auf und ging nach oben ins Freie. Trotz des herrlichen Wetters kam es mir stockdunkel vor. Das sieht übel aus, dachte ich und ging in ein Krankenhaus ganz in der Nähe von meinem Büro. Aber natürlich konnte ich dort nicht richtig erklären, was passiert war. »Wahrscheinlich ist das ein Notfall, in der U-Bahn ist mir Folgendes passiert …«, sagte ich. Ich schilderte den Vorfall, so gut ich konnte. Dann rief ich im Büro an und sagte, dass ich mich nicht wohl fühlte und später käme. Schließlich wartete ich drei Stunden. Drei Stunden, in denen nichts unternommen wurde. Das Atmen fiel mir immer schwerer, um mich herum wurde es immer dunkler, ich war verzweifelt und versuchte, bei der U-Bahn-Zentrale anzurufen, um Informationen zu bekommen. Schließlich hatte man ja die erkrankten Fahrgäste auf dem Bahnsteig gesammelt. Aber ich kam nicht durch.
Um elf Uhr kam die Nachricht mit dem Sarin, und ich wurde untersucht. Endlich hatten sie’s kapiert. Ich bekam sofort eine Infusion und ein Bett. Weil ich der erste Patient mit Sarin-Vergiftung in dem Krankenhaus war, waren die Ärzte auf einmal ganz begeistert. Sie umringten mich und piekten mich überall, um die Symptome zu erforschen. Dabei unterhielten sie sich unentwegt untereinander. »Guck mal, so oder so verhält sich das also.« Am Ende war ich drei Tage dort.
Nachts schlief ich gut, denn ich war sehr erschöpft. Im Krankenhaus habe ich mich eigentlich ganz gut erholt. Aber die drei Monate danach waren unheimlich schwer. Ich ermüdete sehr leicht. Nach der kleinsten Anstrengung war ich sofort völlig erledigt. Meine Augen waren schlecht, ich sah verschwommen, und mein Gesichtsfeld war nur ganz klein. In meinem Beruf muss ich viel Auto fahren, aber auf einmal war ich nachtblind. Meine Sehkraft ist immer gut gewesen, aber jetzt konnte ich im Dunkeln nicht mal mehr ein Straßenschild lesen. Und ich bin beruflich auf den Computerbildschirm angewiesen …
Wahrscheinlich war ich damals auch ein bisschen komisch im Kopf, denn ich warnte allen Ernstes meine Bekannten: »Nehmt euch lieber in Acht. Irgendetwas Seltsames geht in der Stadt vor. Es wird ganz bestimmt etwas geschehen.« Außerdem habe ich mir in einem Trekkingladen ein Survivalmesser gekauft (lacht) . Als ich wieder normal war, kam ich mir selber albern vor … Doch damals war es mir bitterernst. Was soll man denn schon mit einem Survivalmesser anfangen?
Seltsamerweise empfinde ich keinen Zorn. Nur wenn ich an die Toten denke, fühle ich so etwas wie Zorn. Besonders traurig finde ich es, an die toten Bahnbeamten zu denken, die das Sarin aus dem Zug geschafft haben. Ohne sie wäre ich vielleicht nicht mehr am Leben. Aber einen persönlichen Hass auf die Täter habe ich nicht. Irgendwie habe ich mich damit abgefunden wie mit einem Unfall. Kommt diese Antwort unerwartet für Sie?
Murakami: Nein, eigentlich erwarte ich gar nichts Bestimmtes. Es gibt da ja kein typisches Schema.
Jedenfalls war mir die Berichterstattung in den Medien über die Aum-Sekte äußerst zuwider. Ich hatte überhaupt keine Lust, mir das anzusehen. Mein Misstrauen gegenüber der Presse hat sich dadurch verstärkt. Den meisten kommt es doch nur auf die Sensation an. Sie genießen es so richtig, mal sagen zu können: »Ach, wie furchtbar.« In letzter Zeit lese ich nicht einmal mehr Zeitschriften.
MARUNOUCHI-LINIE (Richtung Ogikubo)
Zugnummer A 777
Ken’ichi Hirose setzte in einem Zug der Marunouchi-Linie, der von Ikebukuro in Richtung Ogikubo fuhr, Sarin frei. Koichi Kitamura war sein Fahrer.
Hirose wurde 1964 in Tokyo geboren, war also zur Zeit des Anschlags dreißig Jahre. Nach seinem Abschluss an der Waseda-Oberschule studierte er Naturwissenschaften an der Waseda-Universität und legte als Bester seines Jahrgangs von hundert Studenten sein
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