Untergrundkrieg
weit toxischer, als er es sich vorgestellt hatte. In dieser Minute war in der Bahn, die er mit Sarin verseucht hatte, vermutlich schon die Hölle losgebrochen. »Und vielleicht muss ich jetzt auch sterben«, dachte er plötzlich. Ihm fiel ein, dass Ikuo Hayashi gesagt hatte, er solle sich im Fall auftretender Beschwerden sofort im Aum Shinrikyo-Krankenhaus in Nakano melden und von den Ärzten dort behandeln lassen. Er ließ Kitamura nach Nakano fahren, musste aber zu seiner völligen Überraschung feststellen, dass die Ärzte des Krankenhauses nicht die geringste Ahnung von dem Sarin-Anschlag hatten. Also kehrten die beiden sofort ins Ajid in Shibuya zurück, wo Hirose von Ikuo Hayashi eine Notfallbehandlung erhielt.
Wieder in Kamikuishiki eingetroffen, meldeten die Täter Shoko Asahara »Auftrag erfüllt«, worauf Asahara befriedigt sagte: »Es hat sich gezeigt, dass man dem Ministerium für Wissenschaft und Technik wichtige Aufgaben anvertrauen kann.« Als Hirose berichtete, dass er unterwegs den Wagen gewechselt habe, weil ein Fahrgast aufmerksam geworden sei, sagte Asahara: »Ich habe eure Astralleiber ständig beobachtet und gesehen, dass Sanjayas [Hiroses Sektenname] Astralleib dunkel war. Da dachte ich mir schon, dass etwas geschehen muss. Das war es also.«
»Die Lehre besagt, dass menschliche Gefühle das Ergebnis irriger Sichtweisen sind. Wir müssen unsere Gefühle überwinden«, erklärte Hirose. Er hat zwei Beutel mit Sarin perforiert, und 900 Milliliter des flüssigen Giftstoffes ergossen sich auf den Boden des Waggons. Die Folgen waren ein Toter und 358 Schwerverletzte.
Am Bahnhof Nakano-Sakaue meldete ein Fahrgast, dass jemand zusammengebrochen sei, zwei Schwerverletzte (von denen einer gestorben ist und die andere – »Shizuko Akashi« 6 – eine Zeit lang im Koma lag) wurden aus dem Zug getragen, während der Bahnbeamte Sumio Nishimura das Sarin aufhob und aus dem Bahnhof brachte (vgl. Interview weiter hinten). Doch der Zug, dessen Boden immer noch voller Sarin war, fuhr weiter.
Um 8.38 traf er an der Endhaltestelle Ogikubo ein. Neue Fahrgäste stiegen ein, und der Zug fuhr wieder zurück. Auch diese Fahrgäste klagten über Beschwerden. Mehrere Bahnbeamte aus Ogikubo wischten den Boden, aber auch ihnen ging es bald so schlecht, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Der Zug wurde schließlich in Shin-Koenji aus dem Verkehr gezogen. 7
»Es war, als sähe ich eine Sendung im Fernsehen«
Mitsuo Arima (41)
Herr Arima wohnt in Yokohama. Durch seine klaren Gesichtszüge, seine adrette Kleidung und aufrechte Haltung wirkt er deutlich jünger. Er selbst charakterisiert sich als optimistischen Menschen, der sich gern amüsiert. Er ist sehr beredt, aber nicht dogmatisch. Auf den ersten Blick wirkt er sehr unbeschwert, aber wenn man sich eine Weile mit ihm unterhält, merkt man doch, dass er nicht mehr ganz so jung ist. Immerhin ist vierzig ein Alter, in dem viele Menschen anfangen, über den Sinn des Lebens nachzudenken.
Herr Arima ist bei einer Kosmetikfirma angestellt und spielt mit einigen Kollegen in einer Band – er ist der Gitarrist. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Herr Arima hatte Pech: wegen beruflicher Verpflichtungen fuhr er am Tag des Anschlags mit der Marunouchi-Linie, die er sonst kaum benutzt.
Die ganze Woche davor hatte ich eine scheußliche Grippe. Zum ersten Mal, seit ich arbeite, musste ich das Bett hüten. Bis dahin war ich fast nie krank.
Am 20. März fuhr ich nach längerer Abwesenheit ins Büro, weshalb ich auch ein bisschen früher da sein wollte, um einen guten Eindruck zu machen (lacht). Also ging ich zwanzig Minuten früher aus dem Haus.
Ich sitze immer ganz gemütlich in der Yokohama-Linie und lese die Zeitung, bis ich in Hachioji ankomme, wo mein Büro ist. Aber an dem Tag musste ich in unser Büro in Shinjuku zu einer Sonderbesprechung der Geschäftsführer, die einmal im Monat stattfindet. Ich wollte also am Vormittag an der Besprechung in Shinjuku teilnehmen und mich nachmittags mal wieder im Büro in Hachioji blicken lassen.
Die Besprechung beginnt immer um halb zehn. Kurz vor sieben ging ich aus dem Haus, nahm die Yokosuka-Linie bis Shimbashi, dann die Ginza-Linie bis Akasaka-Mitsuke und stieg dann in die Marunouchi-Bahn nach Shinjuku-Gyoenmae, das heißt, ich brauche ungefähr anderthalb Stunden. Ab Akasaka-Mitsuke leert sich die Bahn, und man bekommt auf jeden Fall einen Sitzplatz. Aber kaum hatte ich mich hingesetzt, nahm ich einen
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