Untergrundkrieg
jungen Kollegen, der sich an einem Geländer festhielt. Er war etwa fünfundzwanzig. Eine junge Frau, ebenfalls aus unserem Büro, kümmerte sich um ihn. Natürlich hatte sie noch keine Ahnung von dem Anschlag auf die Hibiya-Linie und dachte, er leide unter niedrigem Blutdruck oder so etwas, was ja morgens gar nicht so selten ist. Sie massierte ihm den Rücken und fragte die ganze Zeit: »Geht’s? Geht’s noch?« Offenbar war der Mann in einem Zug der Hibiya-Linie gewesen wie ich.
»Was ist passiert?« fragte ich ihn. »In der U-Bahn …«, stammelte er. Da ich ja schon wusste, wie viele Menschen in Tsukiji zusammengebrochen waren, erkannte ich den Ernst der Lage. Er hatte keinen Kreislaufkollaps, sondern etwas Schlimmeres. Wir mussten ihn so schnell wie möglich in ein Krankenhaus bringen. Ich ging zu einem Telefon und wählte 119, aber es hieß nur: »Alle Rettungswagen sind im Einsatz. Bitte bleiben Sie dort, wo Sie sind.« Die Wagen waren alle in Tsukiji und Kasumigaseki.
Also ging ich zur Polizeiwache im Bahnhof. Doch die Nachricht hatte sie noch nicht erreicht, und als ich reingestürzt kam und etwas von einem »Vorfall in der U-Bahn« rief, nahm der Beamte gar keine Notiz von mir. Ich merkte, dass ich da nicht weiterkam, und beschloss, meinen Kollegen auf eigene Faust mit dem Taxi ins Krankenhaus zu bringen. Also verfrachtete ich ihn und die Frau in ein Taxi, und wir fuhren zum Rotkreuzkrankenhaus in Hiroo, das in der Nähe liegt …
Mein Kollege war ziemlich schwer verletzt. Er konnte nicht mehr stehen und kaum noch sprechen, konnte uns also auch nicht schildern, was passiert war. Wäre ich nicht vorbeigekommen, hätte wahrscheinlich niemand das für ihn Richtige getan. Die Leute, die von dem Anschlag nichts wussten, hatten ja keine Ahnung, in welcher Gefahr er war. Und für die Frau allein wäre es sehr schwierig gewesen, ihn zu einem Taxi zu schleppen.
Wir waren im Rotkreuzkrankenhaus die ersten Sarin-Opfer, aber man hatte den Eindruck, sie hätten nur auf uns gewartet und würden gleich rufen: »Wir haben einen! Nummer eins ist da!« Mir kam gar nicht in den Sinn, dass ich auch selbst betroffen sein könnte. Mir lief die Nase, aber ich dachte, ich hätte mich erkältet. Andere Symptome habe ich nicht registriert. Während mein Kollege behandelt wurde, rief ich seine Eltern an und erklärte ihnen, was passiert war. Die Telefone waren überlastet, und seine Eltern kamen erst nach zwei Uhr im Krankenhaus an. Mittlerweile war das Krankenhaus voller Sarin-Opfer. Sie lagen überall auf den Gängen und bekamen Infusionen.
Da ich schon seit dem Morgen dort war, kannte ich inzwischen die Krankenschwestern. Als sie mir vorschlugen, mich selbst auch untersuchen zu lassen, willigte ich ein. Jedenfalls stellte sich heraus, dass meine Pupillen verengt waren, aber nur ganz wenig. Mein Sehvermögen war nicht beeinträchtigt. Trotzdem ließ ich mich zur Sicherheit für eine Stunde an den Tropf hängen.
Ich erinnere mich, wie leid es mir tat, als ein Zimmermann mit einer Schnittwunde ins Krankenhaus kam – der Ärmste war blutüberströmt, und keiner nahm von ihm Notiz. Als ob sie sagen wollten: » Sehen Sie denn nicht, dass hier Sarin-Opfer behandelt werden?« Dabei sah seine Verletzung viel schlimmer aus.
Nach der Infusion fuhr ich zum Büro. Die Nase lief mir immer noch, aber bei der Arbeit störte das nicht. Abends fuhr ich wie gewohnt nach Hause. Ich war in einem Wagen gewesen, der von dem mit dem Sarin ziemlich weit entfernt war, und war sehr glimpflich davongekommen. Ich wurde nur untersucht, weil ich meinen schwer verletzten Kollegen ins Krankenhaus gebracht hatte, und deswegen ist mein Name in die Zeitung geraten. Deshalb ist meine Geschichte eigentlich nicht von Bedeutung …
Der junge Kollege arbeitet nicht mehr in unserer Firma. Er ist vor einem Jahr gegangen, aber das hatte mit dem Sarin-Anschlag nicht unmittelbar zu tun. Es ging ihm schon wieder recht gut. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.
Natürlich war das ein grauenhafter Anschlag, aber da ich, wie gesagt, kaum betroffen war, habe ich ungefähr die gleichen Eindrücke wie die meisten. Selbstverständlich gibt es für so etwas keine Entschuldigung … Ich habe später von der U-Bahn-Verwaltung eine kostenlose Dauerfahrkarte erhalten. Für die Bahnlinien war das ja bestimmt auch eine schlimme Sache. Sie konnten ja eigentlich nichts dafür.
»Das ist ja Yoshihiro Inoue aus der Schule!«
Ken’ichi Yamazaki (25)
Herr Yamazaki ist der
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