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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich mich in die erste Bahn, die kam. Ob man nun sitzt oder steht, es ist so eng, dass man die Gesichter fremder Leute dicht vor der Nase hat, sodass es auch im Sitzen nicht besonders angenehm ist. Auch an dem Tag war der Zug gerammelt voll. Montags ist es am vollsten.
    Ich steige meist in die letzte Tür des vierten Wagens von vorn ein. Weil ich sonst immer um die gleiche Zeit fahre, sehe ich auch immer dieselben Gesichter, aber an diesem Tag war ich in einer anderen Bahn und kannte keinen. Ich erinnere mich noch an den Eindruck, dass die Atmosphäre irgendwie anders war als sonst.
    Bis Tsukiji gab es nicht die geringste Chance auf einen Sitzplatz. Das war ungewöhnlich. Normalerweise kriege ich schon in Kayabacho einen … Egal, als ich endlich in Tsukiji einen Sitzplatz ergatterte, kam über Lautsprecher die Ansage: »Ein Fahrgast ist ohnmächtig geworden. Damit Erste Hilfe geleistet werden kann, hält der Zug vorübergehend an dieser Station.« Ich blieb sitzen und wartete, aber ein oder zwei Minuten später hieß es schon, dass drei Fahrgäste ohnmächtig geworden seien.
    Auf dem Bahnsteig stand eine Mauer von Menschen. Das Drama spielte sich im nächsten Wagen ab, in dem die Beutel mit Sarin waren. Ich war im vierten Wagen und fragte mich, was da wohl los war. Auch als ich den Kopf aus der Tür steckte, konnte ich nichts feststellen.
    Plötzlich rief ein Mann in mittlerem Alter: »Sarin! Es ist Sarin!«
    Murakami: Jemand hat wirklich »Sarin« gerufen? Zu dem Zeitpunkt schon?
    Ja, er hat ganz sicher »Sarin« gesagt. Aber er hörte sich wie ein Betrunkener an.
    Daraufhin standen mehrere Leute in meinem Wagen auf, aber keiner hatte es besonders eilig. Niemand rannte oder so.
    Kurz darauf kam wieder eine Durchsage: »Giftgas wurde entdeckt. Es ist gefährlich, sich in der U-Bahn aufzuhalten. Bitte, begeben Sie sich zu Ihrer eigenen Sicherheit zügig nach oben.« Jetzt erst stiegen alle aus, aber es herrschte immer noch keine Panik. Die Leute gingen vielleicht ein bisschen schneller als normal, aber es gab kein Gedränge und Geschiebe. Einige drückten sich Taschentücher vors Gesicht oder husteten, aber das war auch alles.
    Der Wind wehte von hinten durch den Bahnhof in die Richtung des Zugführerwagens, deshalb bildete ich mir ein, in Sicherheit zu sein. Das Problem befand sich offenbar im nächsten Wagen – im dritten von vorne –, windabwärts von mir. Der Ausgang lag ebenfalls entgegen der Windrichtung am Ende des Zuges. Dann verspürte ich ein seltsames Kitzeln im Hals. Wie wenn man beim Zahnarzt ein Betäubungsmittel bekommt, und es läuft einem langsam die Kehle hinunter. Ehrlich gesagt, bekam ich Angst. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich vielleicht vergast wurde. Wenn es wirklich Sarin war, war die Lage ernst. Ich wusste, was in Matsumoto passiert war. Man atmete das Gas ein und starb.
    Ich ging durch die Fahrkartensperre und die Treppe hinauf. Draußen wollte ich eine Zigarette rauchen, aber ich konnte den Rauch nicht inhalieren, weil ich so furchtbar husten musste. Da wurde mir klar, dass ich das Gas eingeatmet hatte. Ich beschloss, in meiner Firma anzurufen. Vor diesem Ausgang waren zwei Telefonhäuschen, vor denen sich aber schon lange Schlangen gebildet hatten. Ich musste fünfzehn oder zwanzig Minuten warten, bis ich an der Reihe war. Es war noch vor Beginn der Arbeitszeit, aber eine Kollegin nahm ab, und ich konnte ihr sagen, dass ich mich wegen eines Terroranschlags in der U-Bahn verspäten würde.
    Als ich aufgelegt hatte, sah ich mich um. Überall kauerten oder lagen Menschen. Dutzende. Einige waren sogar bewusstlos die Treppen hinaufgebracht worden. In nur fünfzehn oder zwanzig Minuten war ein Chaos ausgebrochen. Aber es herrschte noch nicht die Kriegsatmosphäre, wie sie später im Fernsehen gezeigt wurde.
    Ein Kriminalbeamter ging herum und fragte laut: »Hat jemand die Person gesehen, die das Giftgas freigesetzt hat?« Bald trafen die ersten Rettungswagen ein.
    Anfangs war der Eingang zur U-Bahn noch nicht abgesperrt, und eine ganze Menge Schaulustiger ging hinunter. Während ich noch überlegte, ob das nicht ein großer Fehler sei, kam schon ein Bahnbeamter und schloss den Eingang.
    Ich war sehr besorgt, denn mir war klar, dass ich das Gas eingeatmet hatte. Sollte ich dort bleiben? Sollte ich mich nicht lieber gleich untersuchen lassen? Es wäre doch Unsinn, jetzt auf Umwegen mit einer anderen Bahn in die Firma zu fahren und unterwegs zusammenzuklappen.
    Ich überlegte hin und her.

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