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Untergrundkrieg

Titel: Untergrundkrieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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lief ihnen aus dem Mund, und ihre Augen waren ganz weiß. Einer von ihnen zeigte gar keine Reaktionen mehr, ein anderer wand sich in Krämpfen. Er konnte nicht gehen und stöhnte vor Schmerzen. Inzwischen waren die Straßen gesperrt, und es wimmelte von Polizei- und Feuerwehrwagen.
    Ich beschloss, zu Fuß zur Haltestelle Yurakucho zu gehen, von dort mit der Bahn nach Shibuya und dann mit dem Bus nach Hiroo zu fahren. Beim Gehen fühlte ich mich immer schlechter, und als ich in der Yamanote-Linie saß, war ich vollkommen fertig. Meine Kleider waren von diesem Geruch durchtränkt. Aber irgendwie musste ich es bis nach Shibuya schaffen. Am Busbahnhof würde ich ganz bestimmt Kollegen treffen. Wenn ich aber in der Bahn umkippte, würde mir keiner helfen.
    Natürlich wäre es besser gewesen, ich hätte mich schon in Tsukiji an einen Rettungswagen gewandt. Aber auf diesen Gedanken war ich irgendwie nicht gekommen. Inzwischen konnte ich nicht mehr aus eigener Kraft in ein Krankenhaus fahren. Ich musste nach Shibuya, und wenn ich auf allen Vieren hinkriechen würde.
    Ich stieg also in Shibuya aus, überquerte irgendwie die Übergänge an den Ampeln und schaffte es gerade noch bis zur Bushaltestelle. Dort ließ ich mich auf die Erde fallen. Ich lehnte mich mit dem Rücken an ein Geländer und streckte die Beine aus. Am frühen Morgen schon so kaputt – das kann nur ein Betrunkener sein. Die Passanten starrten mich bloß an und dachten wohl, ich hätte in Shibuya die Nacht durchgemacht.
    Endlich kam eine Kollegin und sprach mich an, aber ich konnte nicht antworten. Luft kriegte ich auch keine mehr. Ich kam mir vor wie ein alter Saufbold, dem die Zunge nicht gehorchen will. Mein Gehirn funktionierte, aber ich konnte die Gedanken nicht in Worte fassen. Ich wollte sprechen, aber es ging nicht. Es sollte mir einfach nur jemand helfen, aber keiner kapierte das. Ich fror, mir wurde kälter und kälter. Nicht zum Aushalten. Aber dann kam ein älterer Kollege [Herr Ichiba] vorbei, der zufällig auch mit der Hibiya-Linie gefahren war. Er fragte mich, ob ich in Tsukiji gewesen sei, und schaltete sofort.
    Das war mein Glück. Wer weiß, was sonst mit mir passiert wäre. Er versuchte sofort, einen Rettungswagen zu alarmieren, aber alle waren schon im Einsatz. Also rief er ein Taxi und bugsierte mich mit Hilfe von zwei anderen Kollegen hinein. Dann fuhren wir zum Rotkreuzkrankenhaus nach Hiroo. Im Taxi fragte einer von ihnen: »Was riecht denn hier so süß?« Meine Klamotten waren mit Sarin getränkt.
    Das Atmen fiel mir schwer, und mein ganzer Körper fühlte sich taub an. Die Augen konnte ich auch nicht mehr offen halten. Als wäre alle Kraft aus meinem Körper geflossen und ich würde in einen tiefen Schlaf fallen. Ich war überzeugt, dass ich sterben würde. Ich konnte mich nicht bewegen, hatte überhaupt keine Kraft mehr. Aber ich empfand keine Angst. Vielleicht weil ich keine Schmerzen hatte. So stelle ich es mir vor, wenn jemand an Altersschwäche stirbt. »Vor meinem Tod möchte ich sie wenigstens noch einmal sehen«, dachte ich. Meine Freundin. Ich dachte zum Schluss an sie, nicht an meine Eltern. Jemand sollte ihr ausrichten, dass ich sie noch einmal sehen wollte.
    Murakami: Wie lange haben Sie an der Bushaltestelle gelegen, bis Ihr Kollege Sie gefunden hat?
    Daran erinnere ich mich nicht. Aber ich ärgerte mich über die vielen Leute, die einfach vorbeigingen und so taten, als sähen sie mich nicht. Diese Idioten! Manche Menschen sind eiskalt. Haben nicht mal ein Wort für jemanden übrig, dem es schlecht geht. Marschieren einfach vorbei. Ich an ihrer Stelle hätte auf jeden Fall etwas unternommen. Wenn in der U-Bahn jemandem schlecht ist, erkundige ich mich immer, ob er Hilfe braucht, und biete meinen Platz an. Aber die meisten Leute tun das nicht, das habe ich jetzt gelernt.
    Ich war zwei Tage im Krankenhaus. Sie wollten mich länger dabehalten, aber ich habe mich gefühlt wie ein Versuchskaninchen mit einer seltenen Krankheit. Das war mir zuwider, und ich wollte nach Hause. »Wir brauchen Sie noch, um Daten zu sammeln, für den Fall, dass wieder einmal so etwas passiert«, hat der Arzt gesagt. Ich fuhr mit der Bahn nach Hause, obwohl ich immer noch Schwierigkeiten beim Atmen hatte. Aber ich wollte nur nach Hause, etwas Gutes essen und mich ausruhen. Interessanterweise war mein Appetit nicht beeinträchtigt. Alkohol und Zigaretten waren natürlich für längere Zeit tabu.
    Diese Mattigkeit hielt ungefähr einen Monat lang

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