Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
nehmen als Polizisten immer automatisch und ganz selbstverständlich an, dass die Täter nach vollbrachter Tat die Spuren aus einem einzigen Grund verwischen: um unsere Ermittlungen in falsche Bahnen zu lenken. Das ist auch in neunundneunzig Prozent aller Fälle so. Hier aber haben wir es mit dem einen Prozent zu tun, und wir sind zunächst darauf hereingefallen. Uns wurde eine Inszenierung aufs Auge gedrückt: Der Inhalt der Handtasche war fast perfekt arrangiert, die Leiche wurde aufsehenerregend präpariert, der Tathergang ist dramatisch und nebulös, wir haben uns viele Gedanken über das verschwundene Tatwerkzeug gemacht. Wir haben angenommen, dass das alles für uns Ermittler inszeniert wurde, um uns auf die falsche Spur zu führen. Nie haben wir daran gedacht, dass diese Inszenierung andere in die Irre führen sollte, und zwar viel gefährlichere Instanzen als uns – die eigenen Killerkollegen, die sich auf der Alm zusammengefunden haben.«
Jennerwein stand auf und pinnte das Passfoto an die Tafel.
»Diese Frau ist nicht identisch mit der Frau unter der Zirbe!«
Jennerwein hatte so viel Druck in die Stimme gelegt, dass alle auf ihren Stühlen erstarrten. Jeder schien die Luft anzuhalten, jeder spürte, dass die entscheidende Wendung des Falls kurz bevorstand.
»In den gerichtsmedizinischen Unterlagen wird die Tote beschrieben als eine Frau mit durchschnittlicher körperlicher Konstitution, durchschnittlicher Fitness, durchschnittlichem gesundheitlichen Gesamtzustand –«
»Das ist richtig«, sagte die Gerichtsmedizinerin. »Ich tippe auf mäßige sportliche Betätigung. Einmal in der Woche Squash, so etwas in der Art.«
»Mäßige sportliche Betätigung – aber was bedeutet das? Trainieren solche Profis nicht ausgesprochen hart, um sich in Form zu halten? Schon aus diesem Grund ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die tote Frau die Äbtissin ist.«
»Jetzt, wo Sie es sagen«, murmelte die Frau im Rollstuhl nachdenklich. »Keine Muskelpartie ist besonders intensiv ausgebildet. Ich habe dem aber keine Bedeutung beigemessen. Denn eine Auftragsmörderin muss ja keine muskelbepackte Kampfmaschine sein. Es gibt heutzutage leicht zu bedienende Schusswaffen.«
»Auch Schützen müssen täglich trainieren«, gab Stengele zu bedenken. »Sie müssen sogar ziemlich hart trainieren, um die nötige Körperspannung jederzeit abrufen zu können.«
»Der nächste Punkt betrifft die Silphen«, sagte Jennerwein. »Am Tatort hat Becker hundertfünfzig dieser Käfer gezählt. Das ist zwar die übliche Größe einer Population, aber ist es nicht ein großer Zufall, dass die genau da auftauchen, wo sie gebraucht werden? Das kann kein Zufall sein.«
»Darüber habe ich mich auch schon gewundert«, warf Becker ein. »Wir haben im Zirbelbaum kein Nest gefunden. Auch in der näheren Umgebung nicht. Nur die Stinkmorchelreste am Boden.«
Jennerwein nahm den Faden wieder auf.
»Die Tiere wurden meiner Ansicht nach mitgebracht und ausgesetzt. Und warum? Um das Gesicht in möglichst kurzer Zeit unkenntlich zu machen und die anderen Seminarteilnehmer gar nicht auf den Gedanken kommen zu lassen, dass diese tote Frau nicht die Frau auf dem Passfoto ist. Da die Seminarteilnehmer die Alm möglichst schnell verlassen mussten, konnten sie nur einen kurzen Blick auf die Leiche werfen. Sie sehen plötzlich eine Frau ohne Gesicht, und sie sehen kurz darauf ein Passfoto mit Gesicht. Sie kommen, genauso wie wir, gar nicht erst auf den Gedanken, dass das nicht die gleiche Frau sein könnte.«
»Richtig, Hubertus. Das Gehirn rechnet sich die Welt stimmig«, sagte Maria. »Auch das Gehirn eines Auftragsmörders.«
»Und warum gibt man eine fremde Leiche als seine eigene aus?«, fuhr Jennerwein fort. »Das macht doch nur jemand, der dauerhaft von der Bildfläche verschwinden will. Der sich viele Feinde gemacht hat, der befürchten muss, selbst liquidiert zu werden. Und genauso geht die Äbtissin vor. Die Äbtissin ist nicht die Leiche, die Äbtissin ist vielmehr die Täterin. Sie lebt, und sie befindet sich noch hier im Ort. Sie ist in der Nähe. Sie weiß nur nicht, dass wir das wissen. Das ist unser Riesenvorsprung.«
»Wie könnte die Tat abgelaufen sein?«, fragte Nicole.
Jennerwein deutete wieder auf das Foto an der Pinnwand.
»Die Äbtissin will aus dem kriminellen Betrieb aussteigen. Das geht natürlich bei Killers nicht so einfach. Sie meldet sich zu diesem Seminar an, sie tötet eine Frau, die sie sich sorgfältig
Weitere Kostenlose Bücher