Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
Zeitung kaufen. Das wäre viel zu auffällig. Aber Gelegenheit, ins Netz zu schauen, gab es immer. Jennerwein lief wieder los. Zum Revier waren es fünfzehn oder zwanzig Minuten. Er lief auf Nebenstraßen, er wollte nicht aufgehalten und angeredet werden, was denn der Unsinn mit den Absperrungen solle, was sich die Polizei schon wieder erlaube. Er lief die Loisachpromenade entlang. Und plötzlich traf es ihn wie ein Schlag. Innerhalb einer Sekunde stand es plötzlich in großer Klarheit vor ihm: Er hatte einen Denkfehler begangen. Wie hatte er das nur übersehen können! Er war von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Abrupt blieb er stehen und setzte sich auf eine Bank. Er konzentrierte sich. Er sah dem Fließen des Flusses zu. Dann richtete er sich auf. Noch nie hatte Jennerwein die Lösung eines Falls so blitzartig und unmittelbar gespürt. Er riss sein Mobiltelefon aus der Tasche.
»Hallo, Maria! Ich bins. Schnell, rufen Sie alle zusammen. Sofort. Sie sollen alles stehen- und liegenlassen. Es ist wichtig.«
Johann Ostler saß am Tisch und sah dem Michl geduldig beim Zeichnen zu.
»Was meinst du damit: Du kennst den Jennerwein?«
»Ich habe den Kommissar schon öfters gesehen, dich auch. Ihr geht im Ort herum. Du hast Angst, Ostler. Du fürchtest dich vor was.«
Ostler ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Ich habe vielleicht Angst, dass ich meine Arbeit nicht gut genug mache?«
Der Michl schüttelte zweifelnd den Kopf. Er zeichnete weiter.
»Zeichnest du oft Leute aus dem Ort?«, fragte Ostler.
»Freilich. Willst was sehen? Das bist du und der Jennerwein.«
Ohne mit dem Zeichnen aufzuhören, griff der Michl mit der freien Hand in die Tasche und zog das zerknüllte Blatt Papier heraus. Er warf es auf den Tisch. Ostler nahm es und entknüllte es vorsichtig. Da war ein Mann zu sehen, der sich nach allen Seiten umblickte. Es war eher ein abstraktes Strichmännchen, aber es war trotzdem er selbst, Polizeiobermeister Johann Ostler. Sein Diensteifer, seine ruppige, manchmal etwas unbeholfene Art, die Sachen anzupacken, alles war mit wenigen Strichen angedeutet. Sein Jagdfieber war zu erkennen, und die große Sorge, dass man hier auf der ganzen Linie versagte. Ostler schüttelte sich. Das hatte mit dem Fall nichts zu tun. Darum würde er sich später kümmern. Er musste in diesem Fall weiterkommen. Er zeigte dem Michl die Phantombilder der Seminarteilnehmer. Der Michl schüttelte bei jedem den Kopf. Er war also doch nicht droben gewesen. Oder er tat nur so, als ob er niemanden kennen würde? Ostler dachte, dass es zwecklos war, aber er holte trotzdem eine Kopie des Passfotos der Äbtissin heraus und schob sie dem Michl hin. Der Michl warf einen kurzen Blick darauf.
»Die kenn ich.«
Ostler hätte fast aufgeschrien vor Überraschung. Er konnte seine Erregung kaum verbergen.
»Die kennst du?«
»Freilich.«
»Dann bist du also doch oben gewesen auf der Alm?«
»Nein. Ich habe sie im Ort gesehen.«
»Wann?«
»Gestern.«
Gestern. Ostler seufzte enttäuscht. Der Michl hatte die Äbtissin gestern im Ort gesehen. Aber das konnte nicht sein. Da war sie doch schon tot gewesen.
47
In Weißrussland hingegen ist es bei Beerdigungsfeierlichkeiten der Brauch, Münzen hinter sich in den Kamin zu werfen. Auch hier hat man pro Münze eine Lüge über den Verstorbenen frei.
Das Nudelwasser liegt still da. Es ist das Nudelwasser der Erkenntnis. Der Siedepunkt ist erreicht, im Topf müsste es längst schon brodeln und rumpeln, die Wasseroberfläche ist jedoch glatt wie ein leergefischter Dorfweiher. Nur ein leises Knacken ist zu hören. Dann plötzlich, ohne jede Vorwarnung, platzt eine große Luftblase, sie hebt sich wie ein Torpedo aus der Tiefe, und ein Schwall von Wasser und heißer Luft spritzt durch die ganze Küche. Genauso schlagartig und eruptiv war über Jennerwein die große Klarheit gekommen. Und dann ging alles ganz schnell. Er sprang von seiner Bank an der Loisach auf und spurtete ins Revier.
Er schloss die Tür und setzte sich an den Besprechungstisch. Stengele und Hölleisen waren zurück von ihren Einsätzen an den Ausfallstraßen des Kurorts. Becker und die Gerichtsmedizinerin hatten ihre mikroskopischen Arbeiten unterbrochen. Auch Maria und Nicole saßen gespannt da, begierig auf die Neuigkeiten, die Jennerwein angekündigt hatte.
»Ich will gleich zur Sache kommen«, sagte der Kommissar. »Wir haben etwas übersehen. Ich habe etwas übersehen. Ich muss total betriebsblind gewesen sein. Wir
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