Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
einem Stuhl, phlegmatisch vornübergebeugt, die schlaffen Hände im Schoß, den Blick irgendwohin, aber eher nach unten gerichtet. Das Gesicht war bedeckt von einem mächtigen Vollbart, die Haare hingen ihm wüst in die Stirn. Gar nichts, rein gar nichts konnte man aus diesem Gesicht lesen, die schwarzgrauen Haarbüschel verdeckten alles. Nur die Augen des Michl bewegten sich langsam hin und her, aber sie glotzten trübe, sie wichen jedem prüfenden Blick aus, sie sagten rein gar nichts. Dieser Mensch schien sich von der menschlichen Gesellschaft fernhalten zu wollen, das war offensichtlich. Aber war das Taktik? War er nicht doch ein Verdächtiger? Man musste diese Möglichkeit ins Auge fassen. Man musste auf der Hut sein. Jennerwein blickte zu Ostler hinüber. Der schien das Gleiche zu denken.
»Du musst schon reden, Michl«, sagte Jennerwein. »Wir wollen wissen, wo du die letzten zwei Tage warst. Heute. Gestern. Vorgestern. Kannst du uns das sagen?«
Lange Pause. Der Michl schien nachzudenken. Er griff nach einem Blatt Papier, das auf dem Tisch lag. Er zog es zu sich her und begann, es zu bemalen. Es war eine umständliche Art des Malens. Ostler und Jennerwein warfen einen Blick darauf. Es war weder ein schematischer Zeitplan, den sie erwartet hätten, noch eine erkennbare Ortsskizze. Es waren, zumindest auf den ersten Blick, wilde Kritzeleien, bedeutungsloses Gestrichel, der Zeichnung eines Kindes ähnlich. Er wollte sich vielleicht nur in seine Welt zurückziehen.
»Michl, hast du das verstanden?«
Der Michl zeichnete weiter.
»Freilich habe ichs verstanden. Warum soll ich es nicht verstanden haben?«
»Und?«
»Wo ich war? Weiß ich nicht mehr. Ich merke mir das nicht. Ich habe das gemacht, was ich immer mache. Habe Brotzeit geholt. Beim Metzger Kallinger. Habe Obst geholt. Am Markt. Eingekauft. Was man halt so braucht. Kannst ja fragen. In den Läden. In den Läden kannst du nachfragen. Da erfährst du, wann ich wo war.«
Das war fast ein Redefluss. Ostler ließ sich für die folgende Frage viel Zeit.
»Warst du in den letzten Tagen droben auf der Wolzmüller-Alm?«
»Wann soll ich droben gewesen sein?«
»Vorgestern.«
»Weiß nicht. Ich glaube nicht.«
»Michl! Das kannst du mir nicht erzählen, dass du das nicht weißt. Man hat mir gesagt, dass du dir jedes Gesicht merken kannst, das du einmal gesehen hast. Bis ins Kleinste. Dass du jemanden zeichnen kannst, den du vor einem Jahr gesehen hast. Und du willst nicht mehr wissen, ob du vorgestern oben warst?«
»Gesichter sind interessant. Darum merke ich sie mir. Alles andere ist uninteressant.«
Jennerwein deutete auf das Gekritzel.
»Was malst du da?«
Keine Antwort.
Es war wohl sinnlos, dem Michl die geplante polizeiliche Aktion zu erklären. Aber die Zeit drängte, sie mussten jetzt ein Ergebnis haben.
»Hast du was dagegen, wenn jemand von uns hierbleibt?«, sagte Jennerwein.
Leichtes Kopfschütteln. Eine positive Bestätigung? Wahrscheinlich. Wenigstens etwas.
»Weißt du, Michl, wir machen es so. Der Johann Ostler bleibt heute und morgen bei dir. Damit hier nicht auch noch was Schlimmes passiert, so etwas wie auf der Alm. Nur heute und morgen. Bist du damit einverstanden?«
»Ich muss aber Brotzeit holen.«
»Wir kaufen schon für dich ein. Du sagst, was du brauchst, wir holen das dann. Einverstanden?«
Jennerwein ging betont langsam hinaus, um den Michl nicht zu verschrecken. Draußen beobachtete er die Fenster der umliegenden Häuser. Er konnte niemanden entdecken. Dann beschleunigte er seine Schritte, er legte einen Spurt ein. Das Auto überließ er Ostler, damit konnte der im Notfall den Michl in Sicherheit bringen. Das Redaktionsgebäude der örtlichen Zeitung war zehn Laufminuten entfernt. Jennerwein wich müßigen Fußgängern aus, sprang über Hundeleinen, überflankte Absperrungen, er lief die Treppen hinauf, zum Redakteur, der schon auf ihn wartete.
»Schreiben Sie, dass wir noch nichts haben«, keuchte er. »Keine Anhaltspunkte, nichts.«
Der Redakteur lächelte genießerisch.
»Die Polizei tappt wieder einmal im Dunkeln?«
»Von mir aus. Und dann bringen Sie die Story mit dem Wolzmüller-Michl, wie ausgemacht. Dass er erzählt hätte, etwas gesehen und gezeichnet zu haben, dass das Bild aber momentan nicht auffindbar sei. Sie tun mir einen großen Gefallen. Sie haben was gut bei mir.«
»Ich werde es mir merken.«
»Servus.«
Fünf Minuten später war die Nachricht online. Der Täter würde sich keine
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