Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
stürzten quer durch das schattige Grün. Schnaufend und hustend blieben sie liegen. Stengele kam herbeigeeilt.
»Was ist los?«, fragte Jennerwein atemlos.
»Sehen Sie selbst!«
Sie richten sich wieder auf und verfolgten die weitere Fahrt der unbemannten Baumstämme. Es war durchaus ratsam gewesen, abzusteigen. Unter ihnen gähnte der Abgrund.
Die beiden Holzstämme durchfuhren eine langgeschwungene Serpentinenkurve, die steiler und immer steiler wurde. Am Ende der Serpentinenkurve hatte es die Äbtissin wohl geschafft, die Rinne zu wechseln, um mit ihrem Baumstamm der nach rechts abzweigenden Riese zu folgen. Die beiden Hölzer der Polizisten wiederum ratterten nun geradeaus den Hang hinunter, sie wurden immer schneller. Der ganze Abhang war unregelmäßig mit großen Steinen bepflastert, an diesem Teilstück abzuspringen, wäre lebensgefährlich gewesen. Die beiden Hölzer schossen alleine nach unten, durch das Gelände, das mit seinen spitzen und schroffen Gesteinsbrocken immer gefährlicher wurde. Dann, urplötzlich, ein steiler Felsabriss. Gute fünfzig Meter ging es nach unten – für den Bergler ist das keine große Höhe, fürs Genick durchaus. Für einen Moment schwebten die Baumstämme frei in der Luft, sie glichen eleganten Speeren. Sie schienen sich sogar ein wenig zu drehen, kokett und halb entschält durch das vorherige Rutschen in der zugewachsenen Bahn. Sie flogen!
Jennerwein und Hölleisen zuckten zusammen. Sie konnten schaudernd erahnen, wie es ihnen ergangen wäre, wenn Stengele sie nicht gewarnt hätte. Die Holzriese war aber von den Vorvätern mit Absicht so gebaut worden, die Lärchen- und Zirbenstämme mussten hinunterstürzen in das kleine Tal, mitten hinein in den blauen Stürfelsee, an dessen Ufer das Sägewerk stand. Es war noch bis in die siebziger Jahre in Betrieb gewesen, dann hatte es dem Fremdenverkehr weichen müssen: Ein Luxushotel war daraus entstanden: Zum Alten Sägewerk , fünf Sterne, Spezialität Gamsragout auf frisch geholzten Zirbelbrettern, Busse nicht willkommen. Der erste Stamm schlug auf der eleganten Terrasse ein, ohne Vorwarnung zerschmetterte er ein Beistelltischchen im Empire-Stil. Der (bis dahin) gelangweilte Oberkellner konnte sich gerade noch durch einen beherzten Sprung zur Seite retten. Der Stamm schlingerte und schwänzelte auf dem glatten Marmor, er rutschte ausgelassen die Terrasse entlang, zerdepperte das mühsam aufgebaute Porzellan, wandte sich Tisch Nr. 4 zu und drückte diesen, ohne die Stühle zu vergessen, mit brachialer Gewalt an die Mauer. Gottlob war das Ehepaar Cusius ein paar Minuten vorher im Streit auseinandergegangen. Der zweite Stamm richtete noch mehr Schaden an, er schlug auf der Terrasse ein wie ein Torpedo. Er bohrte sich in den frisch renovierten Bodenbelag, er riss ihn auf, dass die Fliesen links und rechts wegspritzten, ehe er schließlich im Wasser des Stürfelsees landete. Verletzt wurde niemand, außer vielleicht einem amerikanischen Kaufmann, der einen reparablen Herzinfarkt erlitt. Das Ehepaar Cusius bekam von alledem nichts mit. Sie stritten in ihrem Zimmer. Frau Cusius schrie mit voller Lautstärke, deshalb hörte sie nichts, Herr Cusius hatte, wie immer bei solchen Gelegenheiten, das Hörgerät ausgeschaltet.
Nicole und Maria befanden sich noch mitten im dichten Hochwald. Sie glitten den Abhang mit mäßiger Geschwindigkeit hinunter. Die Schienen waren hier wohl weniger rostig, die Lore machte nicht mehr solch ein Getöse wie vorher, nur ab und zu vernahmen sie ein mäusekleines Quietschen. Ansonsten war es still im Wald. Von den Ereignissen, die sich einen knappen Kilometer südlich von ihnen abspielten (oder gar von den Ereignissen im Alten Sägewerk ), hatten sie nichts mitbekommen. Sie spähten angestrengt nach links und rechts, doch nichts Verdächtiges war zu sehen oder zu hören.
»Du liebe Güte!«, flüsterte Maria, »hier gäbe es ja tausend Möglichkeiten, sich zu verstecken! Wenn ich hier irgendwo reinkrieche, dann findet mich doch kein Mensch mehr. Nicht einmal Spürhunde kämen hier durch.«
»Sie mögen recht haben, Maria«, erwiderte Nicole leise. »Aber ich glaube nicht, dass sich die Äbtissin irgendwo in den Wäldern versteckt hat. Ich bin wie Stengele überzeugt davon, dass sie schnell raus will aus dem Kurort.«
Maria zeigte nach oben.
»Da, sehen Sie mal!«
Durch die Baumkronen hindurch konnten beide einen Hubschrauber ausmachen.
»Ist das derselbe wie vorher?«
»Das kann man von hier
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