Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
hörte man eine Art von Sperrfeuer. Die Äbtissin schoss wahrscheinlich in die Luft, trotzdem gingen alle sicherheitshalber in Deckung.
»Wie viel Munition hat die denn mitgeschleppt?«, schrie Stengele, als er sich wieder zu Boden warf.
»Die Frage ist auch, was sie ausgerechnet da droben auf der Alm will«, keuchte Hölleisen.
»Vielleicht hofft sie, dass noch ein Jeep da steht, mit dem sie flüchten kann«, sagte Nicole.
Plötzlich hörten sie das hohle und dumpfe Gepolter. Es war das unverkennbare Geräusch eines auseinanderfallenden Holzstoßes, den meisten sattsam bekannt aus Freinächten, von Halloween und altbayrischen Polterabenden. Sekunden später kamen die ersten Holzstämme den Abhang herunter auf sie zugerollt. Es war unmöglich, hinter einem Stein oder in einer Mulde Deckung zu nehmen.
»Stehenbleiben! Stämme fest im Auge behalten!«, schrie Stengele entschlossen. »Die Bewegung des Stamms verfolgen! Dann wegspringen!«
Leichter gesagt als getan. Die Holzprügel, deren Zahl stetig angewachsen war, stellten sich auf und schossen kreuz und quer den Abhang hinunter. Ihre Fall- und Rutschrichtung war überhaupt nicht berechenbar. Ein einzelner Baumstumpf blieb in einer Geländevertiefung liegen, drei andere brachen seitlich aus und waren dadurch zu weit entfernt, um Schaden anzurichten. Einer jedoch kam direkt auf Jennerwein und Maria zu. Instinktiv hatte sich Maria auf den Boden geworfen. Es war der falsche Instinkt.
»Stehen Sie auf!«, schrie Jennerwein. Er riss sie hoch und umfing sie mit seinen Armen. Sie zitterte. Der ungeschälte, rauborkige Lärchenholzstamm hatte sich aufgebäumt, er überschlug sich – er flog direkt auf sie zu. Maria war starr vor Schreck. Jennerwein pflügte sie zur Seite. Der Stamm donnerte mit bösen kratzenden und schleifenden Geräuschen zu Tal.
»Sind alle o.k.?«, schrie Stengele. »Dann weiter! Aber Vorsicht – falls sie wieder schießt.«
Die Äbtissin hatte inzwischen im Geräteschuppen der Alm einen Zapin von der Wand gerissen. Ein Zapin war ein Holzfuhrhaken, ein pickelähnliches Werkzeug zum Ziehen von Holzstämmen – zusammen mit der Hacke war das einst die Grundausstattung der Holzfäller gewesen. Sie schlug den Zapin in einen der Baumstämme. Das Schwierigste an diesem Unterfangen war es, den ein Meter fünfzig langen Stamm zum oberen Ende der Holzriese zu schleppen. Die hinunterrollenden Stämme hielten die Verfolger sicher noch eine Weile auf. Sie hatte entsetzte Schreie gehört, vielleicht hatte sie Glück gehabt, und es hatte wenigstens einen von ihnen erwischt. Jetzt lag der Baumstamm endlich in der Rinne. Sie schob ihn von hinten an, er bewegte sich keinen Zentimeter. Sie versuchte, ihn mit dem Zapin zu ziehen – und plötzlich glitt der Stamm auf dem weichen Gras nach unten, er rauschte los wie ein Viererbob auf den ersten Metern. Die Äbtissin setzte sich rittlings auf das Holz und krallte sich fest. Sie kam in Fahrt. Keine Spur von den Polizisten. Der Stamm glitt schneller und schneller dahin. Wenn er sich wirklich drehen sollte oder zu unruhig wurde, dann konnte sie immer noch abspringen. Aber das Holz drehte sich nicht, und es wurde auch nicht zu unruhig oder zu schnell. Der Stamm rauschte genau in richtigem Tempo talabwärts, dem Ziel entgegen, das sie ausgemacht hatte. Bald hätte sie das Gelände der Wolzmüller-Alm hinter sich gelassen, noch zwei- oder dreihundert Meter Fahrt, dann war sie außer Sichtweite der Polizisten. Achtung! Da vorne war der Zaun, der das Anwesen begrenzte. Es war ein straff gespannter, abweisender Drahtzaun. Ein straff gespannter, abweisender Drahtzaun war in ihrem Plan nicht vorgesehen. Abspringen? Sie schätzte, dass sie genug Geschwindigkeit aufgenommen hatte, den Zaun glatt zu durchfahren. Er war an Holzpflöcken festgemacht, das Ganze sah nicht sehr stabil aus. Sie legte sich mit den Füßen voraus bäuchlings flach auf den Stamm und donnerte dem Zaun entgegen. Doch der Zaun war von Rainer Ganshagel, dem rührigen Hüttenwirt, persönlich gebaut worden. Er hatte ihn superstabil gebaut. Ehrensache. Sie fuhr hinein in die Drähte. Sie rissen jedoch nicht, sie lösten sich auch nicht aus den Pfostenhalterungen. Sie strafften sich vielmehr unter dem Gewicht, ohne nachzugeben. Schließlich hing die Äbtissin mit ihrem Baumstamm wie ein Pfeil in einem gespannten Bogen.
Nicole war die erste, die das Wirtschaftsgebäude auf dem Hügel erreichte. Sie warf einen schnellen Blick auf den zerstörten
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