Unterland
meinst denn du?«, fragte ich Ooti, die überhaupt noch nichts gesagt, sondern nur starr übers Wasser geschaut hatte.
»Mich braucht ihr nicht zu fragen.« Ootis Gesicht war nicht zu erkennen, da der Wind an ihrem Haar zerrte. »Ich werde Helgoland sowieso nicht wiedersehen.«
Mem war schneller als der Schreck, der mir ins Herz fuhr.
»Keiner von uns wird Helgoland je wieder so sehen, wie es war«, erwiderte sie sofort. »Und vergesst nicht, wir sind nicht die Einzigen, die ihre Heimat verloren haben. Ist in diesem Land überhaupt noch jemand an dem Ort, an dem er sein möchte? Nichts ist mehr dasselbe, auch nicht für die, die ihr Zuhause behalten durften. Vielleicht wird es Zeit, uns damit abzufinden und nach vorn zu schauen.«
Hatte sie dabei wirklich nur an Helgoland gedacht? So leicht, wie ihr die Worte abfinden und nach vorne schauen über die Lippen gingen, sah meine Mem am Horizont womöglich gar keinen neuen Ort vor sich, sondern eine schiefe Tommy-Mütze auf einem Lockenkopf.
Auch Wollanks wappneten sich gegen den Winter. Wim kaufte sich endlich ein Paar Schuh e – mehrere Nummern zu groß und mit Zeitungspapier ausgestopft, da er davon ausging, dass er wie sein Vater einmal Größe zweiundvierzig tragen würde. Von dieser Anschaffung abgesehen, blieb er jedoch äußerst sparsam, selbst seine Mutter zog ihn schon damit auf: »Komm schon, Sohn, zwei Karten für die hinterste Reihe! Im Schauspielhaus spielen sie Schiller!«
Das Schauspielhaus hieß jetzt »Garrison Theatre« und das begrenzte Kartenkontingent für die deutsche Bevölkerung war heiß begehrt. Aber Wim sah Nora nur ernst an und sie sagte zu uns: »Es ist nichts zu machen. Er hat beschlossen, Herrn Helmand und mich knappzuhalten.«
Dass sich hinter dem Schrank, der Wollanks als Raumteiler diente, Wims Warenlager stapelte, hatte ich mit eigenen Augen gesehen, und ohne jede Umschweife hatte er mir verraten, dass er im Spalt zwischen zweien dieser Kartons sein Barvermögen versteckte. Umso weniger verstand ich, dass er so geizig geworden war.
»Wie wär’s denn damit?«, lockte ich ihn eines Tages im Tauschladen. Vor uns stand ein großes schwarzes Fahrrad.
»Du könntest es kaufen«, ermunterte ich Wim und fügte nach einem schiefen Blick von ihm hinzu: »Du hast mehr als ein Dutzend Kochkisten verkauft, du bist dick im Geschäft mit dem armen Leo und du wolltest immer ein Fahrrad. Warum gönnst du es dir nicht einfach?«
»Weil wir sparen müssen«, antwortete Wim.
Ich musste lachen. Er sagte: »Weil ich nicht weiß, ob ich es mitnehmen kann.«
Das Lachen blieb mir im Halse stecken. Südamerika. Er träumte noch immer davon.
Seit wir wussten, dass Graber sterben würde, war er auszuhalten. Es hatte sich innerhalb kürzester Zeit herumgesprochen und während der Schulspeisung konnte man überall kleine Grüppchen beobachten, die die Köpfe zusammensteckten und zu ihm hinüberschielten.
Ein beklommenes Gefühl schlich in mir hoc h – würden sie mich beschuldigen, wenn sein Abgang sich nicht bald ereignete? Zwei Monate, höchstens! Ich wünschte, ich hätte mich wenigstens nicht festgelegt!
Doch schon am zweiten Tag begann meine eigene Prophezeiung wieder bei mir einzutreffen, als man mir von verschiedensten Seiten tuschelnd zutrug: »Der Graber ist todkrank, der kann jeden Augenblick umkippen!«
Ich atmete auf. Die Spur meiner Urheberschaft war bereits verwischt und die intensive Beobachtung Grabers rührte nicht etwa daher, dass meine Mitschüler die Vorhersage infrage stellten. Es wollte lediglich niemand den Moment verpassen, in dem er umfiel.
Wir alle waren auf Grabers Verschwinden eingestell t – ganz gewiss nicht auf sein unvermutetes Auftauchen in unserem Leben außerhalb der Schule! Dabei hätte ich mir denken können, dass jeder, den ich in Hamburg kannte, über kurz oder lang auf dem Schwarzmarkt auftauchen und versuchen musste, Stücke aus seinem Besitz gegen Essbares einzutauschen.
Graber und seine Frau verkauften Orden ihres Sohnes und ich wünschte, sie hätten dies nicht ausgerechnet in der Nähe meines Stammplatzes getan.
»Das EK zwo bekam unser Erich 1943, und nein, wir verkaufen es ohne Band, wenn es Ihnen recht is t …«
»Das ist das Verwundetenabzeichen, erworben in der Schlacht bei Sewastopol.«
Frau Graber, eine kleine grauhaarige Frau mit Dutt, hatte eine besonders durchdringende Stimme. Oder schien es mir nur so, weil ich lieber nicht zugehört hätte?
»Die posthum verliehene
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