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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Henry eine Pistole brauchen?«
    »Mit oder ohne Munition?«, fragte ich.
    Er erschrak. Jetzt sah ich es deutlich. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und scharrte mit seinem nagelneuen Schuh im Dreck des abgeernteten Kartoffelackers hinter dem Haus.
    »Henry will jemanden erschießen. Er hat seine Adresse, da bin ich ganz sicher, und jetzt hat er also auch eine Pistole!« Ich hörte meine Stimme überschnappen, obwohl wir uns nur leise angezischt hatten. Meine Haarwurzeln, Lippen, Fingerspitzen, selbst die Augenbrauen kribbelten wie tausend Nadeln.
    »Wenn du nicht sofort sagst, ob er schon Munition hat, fange ich an zu schreien!«, drohte ich und ein Blick schien zu genügen, um Wim wissen zu lassen, dass ich keineswegs übertrieb.
    »Scheiße«, stieß er hervor. »Nein!«
    »Nur die Pistole?«
    Er drehte sich abrupt um und ging zum Haus zurück, aber vorher meinte ich ein Nicken zu erkennen und musste mich mit dem ganzen Gewicht auf beide Krücken hängen, die Augen schließen und durch den offenen Mund atmen, um das Schwindelgefühl zu vertreiben.
    Unsere wenigen Habseligkeiten waren rasch durchsucht. Auch in der Küche konnte ich Henrys Pistole nicht finden, obwohl ich jede Dose und Kiste öffnet e – die der anderen Familien eingeschlosse n –, den Tisch vors Fenster schob und mühsam darauf kletterte, um die Vorhangleiste abzuklopfen. Obwohl ich den halben Oberkörper hinter den Küppersbusch quetschte: Die Pistole war nicht da.
    Dafür entdeckte ich umso schneller, woher Henry das Geld genommen hatte, um sie zu bezahlen. Die Pappschachtel mit meinen Ersparnissen war leer. Offenbar wollte Henry, dass auch ich meinen Beitrag leistete.

16

    Die Scheinwerfer der Lok huschten für weniger als zwei Sekunden über die in den Schutz der Lagerhäuser geduckten Gestalten, deren Schatten mit der Schwärze der Nacht verschwammen und in die jäh Bewegung kam, sobald der Güterzug hinter den Baracken auftauchte. Ein gellender Pfiff ertönte von weiter vorn und geisterhaft richteten sich die Schatten auf, einer hier, einer dort, richteten sich auf und liefen, stolperten, krochen in dieselbe Richtung.
    Für mich, die zum ersten Mal dabei war, wäre die Szenerie gespenstisch genug gewesen, auch ohne im Scheinwerferlicht einen Blick in das Gesicht von Helmtrud Wranitzky zu erhaschen, die neben mir hockte: ein weißes, spitzes, wie versteinertes Gesicht, in dem nichts stand außer einem kalten, harten Willen. Helmtrud Wranitzky war sieben. Ich war so erschrocken, dass meine Knie weich wurden und ich erst am Gleis ankam, als Männer und große Jungen die Waggons bereits geentert hatten. Einig e – Wim und Henry darunte r – füllten auf dem fahrenden Zug ihre Säcke, andere warfen mit vollen Armen Kohlen herunter, die wir anderen am Boden auflasen.
    Ich sah alte Männer sich bücken und mit äußerster Mühe wieder aufrichten, Einbeinige, Einarmige, Kinder mit Rucksäcken, die größer und schwerer waren als sie selbst. Jeder raffte und stolperte durch den Schotter, tastete und suchte, und einen Meter über unseren Köpfen hämmerten, polterten und quietschten schwere, offene Güterwaggons über die Schienen. Die Erschütterung fuhr tief in die Knochen, sprengte fast das Herz. Fast jeden Tag stand in der Zeitung, was dabei passierte. 84-Jähriger von Zug überrollt. 16-Jähriger verliert beide Beine. Rentnerehepaar von Brücke gestürzt.
    Nicht denken! Bücken! Sammeln! Als der letzte Waggon neben mir auftauchte, sich rasch entfernte und das ohrenbetäubende Poltern des Zuges nachließ, hörte ich das Knirschen Dutzender Schuhe im Gleisbett, das Kratzen, Raffen und Tasten um mich herum und das leise Kollern, mit dem Kohle auf Kohle fiel.
    Helmtrud Wranitzkys Rucksack war so voll, dass sie ihn kaum tragen konnte. Ich war nicht so geschickt gewesen wie sie und bot ihr an, unsere Rucksäcke beim Nachhausetragen zu tauschen, aber sie nickte nicht einmal, ihr hartes, altes Gesicht starrte stur geradeaus, während wir im Schutz der trostlosen, leeren Lagerhäuser auf die anderen warteten.
    Der Erste, der sich einfand, war Herr Helmand. Er hatte kaum mehr Glück gehabt als ich, schließlich war es auch sein Debüt als Plünderer.
    »Vielleicht gehen wir besser schon vor«, flüsterte er, während unförmige Gestalten an uns vorbeihuschten, gebeugt von der Last ihrer Kohlesäcke. »Nicht, dass uns eine Razzi a …!«
    Herr Helmand war so besorgt, dass er noch im Satz abbrach und lauschte, obwohl von Polizisten oder Hunden

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