Unterland
Meter weiter am Rande der neu erbauten Privatstraße. Seit wir wussten, dass unser Tütendiebstahl von jemandem aus der Nachbarschaft beobachtet wurde, waren wir dazu übergegangen, im Gebüsch direkt am Zaun auf Mem zu warten. Normalerweise war es Henrys Aufgabe, aber auch er und Ooti stoppelten in dieser Woche Kartoffeln.
Der Boden trug bereits eine dünne Laubschicht und ich versuchte nicht daran zu denken, was das bedeutete. Während ich wartete, konnte ich das Knacken hören, mit dem weitere Blätter zu Boden fielen. Die vergangenen Nächte waren viel zu kalt gewesen für Anfang Oktober und im Gebüsch war es so still, dass ich fast zu spüren meinte, wie das Land besorgt den Atem anhielt.
Nach einer Weile ging die Haustür auf und meine Mutter kam heraus, eine braune Papiertüte in der Hand. Da sie wusste, dass ich dort war, begann sie bereits in der Mitte des Vorgartens leise zu reden.
»Alice, die Tüte ist schwer, wenn du sie mit dem Draht rüberholst, könnte sie reißen. Pass auf, ich werfe sie, versuch sie zu fangen, damit sie nicht aufplatzt! Eins, zwe i …«
Ich schlüpfte aus dem Gebüsch und meine Mem, die in ihrer Jugend Korbball gespielt hatte, schleuderte die Tüte so elegant über den Zaun, dass sie direkt in meiner Hand landete. Sie öffnete die Tonne und gab vor, etwas hineinzuwerfen, bevor sie sich ohne ein weiteres Wort umdrehte und zum Haus zurückging.
Meine Mutter war schlau, aber leider war sie nicht die Einzige. Mr s Musgrave musste hinter dem Vorhang des Wohnzimmerfensters ebenso reglos und geduldig gewartet haben wie ich in meinem Gebüsch und Mem konnte sich freuen, ihre Stelle behalten zu dürfen.
Was sei denn schon dabei, versuchte es Captain Sullavan, es seien doch nur Abfälle aus der Küche gewesen!
Aber Mr s Musgrave hielt ihm entgegen: »Woher wissen wir, dass sie nicht absichtlich mehr kocht als nötig? Auch Kinder in England haben Hunger! Die Deutschen haben den Krieg gewollt, nun müssen sie die Suppe eben auslöffeln.«
Vom nächsten Tag an stand die Mülltonne direkt am Haus neben der Eingangstür.
Auf Hunger kann man sich vorbereiten. Unsere Vorratsgläser im Keller beschriftete Mem nicht mit dem Inhalt, sondern mit der Woche, für die das Glas bestimmt war, und sie verbot uns, den Keller zu betreten, was mich verblüffte und ärgerte: Hielt sie uns für so verantwortungslos, heimlich zu naschen?
Ein zufälliger Blick auf unser Vorratsregal jedoch genügte, um mich ihre wahren Beweggründe ahnen zu lassen: Mem hatte vor uns verbergen wollen, wie mager die Gartenausbeute gewesen war. Aufgeteilt auf vierundzwanzig Wochen bis zum Frühjahr, würden unsere Gemüsevorrät e – zusätzlich zu den winzigen Rationen der Lebensmittelkart e – nur jeden zweiten Tag eine kleine warme Mahlzeit ergeben.
Meinem bestürzten Blick wich Mem aus und sagte: »Du und Henry habt die Schulspeisung und ich esse mittags in meiner Küche.«
»Und Ooti?«, fragte ich.
Sie sah aus, als würde sie am liebsten weinen.
»Wir hätten nach der Personenzahl teilen sollen und nicht nach Familien«, grübelte sie am Abend. »Broders sind nur zu zweit, da hätte es auch weniger getan.«
»Grete hat schwerer im Garten gearbeitet als wir alle«, widersprach Ooti. »Die kleine Leni ebenso. Weniger hätten wir ihnen nicht geben können.«
»Die Wollank«, sagte Mem leise, »hat überhaupt nichts getan.«
»Mag sein, aber ohne Wi m …«
»Ich weiß, ich weiß«, schnitt Mem ihr das Wort ab; sie war rot angelaufen, als sei es ihr peinlich, die Bemerkung überhaupt gemacht zu haben.
Ich nahm sie ihr nicht einmal übel. Wir alle waren erschrocken, wie wenig der Garten abgeworfen hatte, und Mems zusätzliche Enttäuschung über das Verhalten »ihrer« Tommys musste in Wahrheit viel größer sein als der Verdruss über Nora.
»Vergesst den Schwarzmarkt nicht«, erinnerte ich sie.
Dabei hatten die Preise auch dort zu steigen begonnen. In meinen kleinen Mehl- und Zuckerhandel musste ich von Woche zu Woche mehr investieren. Zwar konnte auch ich die Preise erhöhen, aber dies hatte nur zur Folge, dass weniger gekauft wurde. Einige regelmäßige Kunden tauchten schon kaum noch auf, weil die Schwarzmarktpreise ihr Budget überstiegen.
»Du hast Recht«, erklärte Mem entschlossen. »Unsere Situation in diesem Winter kann man mit dem letzten überhaupt nicht vergleichen. Kein Grund, den Kopf hängen zu lassen! Wir haben gut vorgesorgt und ich bin stolz auf uns.«
Auf Winter und Hunger kann man sich
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