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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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weit und breit nichts zu hören war. Jede Nacht patrouillierten sie woanders, aber auf der Bahnstrecke vom Ruhrgebiet zu den Hamburger Docks hockten die Kohlemenschen an zu vielen Stellen, als dass man des Problems Herr werden konnte. Bis die Hamburger am Ende der Strecke aufsprangen, waren die Waggons oft schon halb leer.
    »Gehen Sie vor, ich warte noch auf die anderen!«, flüsterte ich zurück und auch Helmtrud machte keine Anstalten, Herrn Helmand zu begleiten. Minute um Minute verging, nachdem die Dunkelheit ihn verschluckt hatte, und rund um die Gleise wurde es still und stiller.
    »Es wird doch nichts passiert sein!«, flüsterte ich. »Wollen wir mal nachsehen?«
    Es kam mir ein wenig komisch vor, eine Siebenjährige nach ihrer Meinung zu fragen, aber Helmtrud sagte nur ein Wort: »Warten!«, und das reichte, um mich mit meinem Standplatz verwurzeln zu lassen. Verglichen mit mir war Helmtrud eine Veteranin des Kohlenklaus und es spielte keine Rolle, dass sie halb so alt war wie ich: Helmtrud war der Boss.
    Und wirklich: Nach einer Viertelstunde näherten sich die Schritte einer kleinen Gruppe und das tanzende Licht der einzigen Taschenlampe, die wir besaßen. Ich erkannte Wim und Henry, Siegfried Wranitzky und einen ziemlich abgekämpften armen Leo, alle vier rußgeschwärzt. Ich war so erleichtert, dass ich bei ihrem Anblick laut lachen musste.
    »Glaub bloß nicht, du sähest besser aus!«, meinte Wim. »Na, was habt ihr?«
    Helmtrud, die mich so gut wie ignoriert hatte, zeigte ihm mit allen Anzeichen von Stolz ihren prall gefüllten Rucksack, aber der arme Leo trieb uns zur Eile, da die Sperrstunde bereits angebrochen war. Nun, wo er über teuer bezahlte Persilscheine verfügte und seinem Spruchkammerverfahren entspannt entgegensehen konnte, wollte er auf keinen Fall riskieren, mit dem Gesetz unnötig in Konflikt zu geraten. Kohlenklau ließ sich nicht vermeiden, meinte er, erwischt zu werden aber wohl!
    »Wo ist Richard?«, fragte Wim stirnrunzelnd.
    »Schon vorausgegangen«, erwiderte ich.
    Ich sah ihm an, wie wenig ihm das gefiel und dass es in ihm weiterarbeitete, während wir nach Hause ginge n – vorsichtig und im Schatten der Häuser, damit uns niemand beobachtete. Straßenüberfälle auf heimkehrende Kohleplünderer waren keine Seltenheit.
    »Hör mal«, sagte ich, »er war nervös, aber immerhin ist er doch mitgekommen!«
    »Hältst du ihn für feige?«, fragte Wim ärgerlich.
    »Aber nein«, log ich rasch. »Er ist ziemlich vorsichtig, das ist alles.«
    »Vorsichtig? Was meinst du damit?«
    Langsam fing ich an, mich nicht weniger zu ärgern als er. »Frag doch Nora! Ich bin sicher, sie weiß ganz genau, was ich damit meine.«
    Wim ging schneller und ließ mich zurück. »Und dass es nicht böse gemeint ist!«, rief ich ihm gedämpft nach, aber es half nichts, Wim grollte. Er grollte selbst zu Hause noch, als wir unter dem Beifall unserer Mütter eine Ausbeute an Kohlen ausschütteten, die mehr als eine Woche reichen würde.
    Wenn er wieder Streit sucht, den kann er haben!, dachte ich wütend.
    Seit Wim Henry die Pistole besorgt hatte, konnten er und ich kaum noch unter vier Augen aufeinandertreffen, ohne aneinanderzugeraten. Ich begriff nicht, wie ein Junge den anderen mit einer Waffe ausstatten konnte, ohne auch nur zu fragen, wozu dieser sie brauchte! Wims unwiderlegbares Argument war, dass Henry es ihm sowieso nicht gesagt hätte. Aber dan n – gerade dann ! – hätte er doch wenigstens mich fragen müssen.
    »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er kühl, »dass du Henry bei jeder Kleinigkeit um Erlaubnis fragst.«
    »Jeder Kleinigkeit? Wir reden von einer Pistole!«
    »Ein uraltes rostiges Ding ohne Munition! Wer weiß, ob sie überhaupt funktioniert.«
    »Na wunderbar. Du meinst, sie geht vielleicht nach hinten los?«
    »Weiber«, stieß er hervor. »Mann, bin ich froh, dass mir nie eine Schwester im Nacken saß!«
    »Lenk nicht ab. Du hast einen Fehler gemacht und jetzt machst du ihn gefälligst wieder gut!«
    Er brauste auf. »Das ist ja der größte Quatsch, den ich j e …«
    »Wenn du mitkriegst, dass er Munition hat, sagst du es mir«, befahl ich.
    »Soll ich den ganzen Tag hinter ihm herschleichen? Patronen liegen überall herum, wahrscheinlich hat er längst welche.«
    Das fürchtete ich auch. Ob Patronenkugel oder Handgranate, in den Trümmerbergen stieß man ständig auf scharfe Munition. Es half nichts, ich musste Henry im Auge behalten, und so erbittert Wim seine

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