Unterland
Person, sodass man den Versuch, ihn nicht zu mögen, gleich wieder aufgeben konnte.
»Schön, dass Sie uns so oft besuchen, Captain Sullavan«, meinte Ooti. »Ich hoffe, wir sehen Sie auch noch, wenn mein Sohn, Wilmas Ehemann und der Vater ihrer Kinder wieder zu Hause ist.«
»Was denn, alle drei?«, erwiderte Captain Sullavan augenzwinkernd.
Wenn wir sein Auto nachts vor dem Haus vorfahren hörten, schlichen wir zu dritt ans Fenster, aber nichts war zu erkennen außer der unterschiedlichen Dauer des Wagenstehens vor dem Gartentor. Zum Glück währte es nie länger als zwei, drei Minuten, bis Mem ausstieg und zu uns zurückkam. Ahnte sie, dass wir wach lagen und auf sie warteten?
In diesem Spätsommer wurde meine Mutter zu dem fremdesten Wesen, mit dem ich je zu tun gehabt hatte. Ihre rein äußerlichen Veränderungen schienen abgeschlossen, nachdem ich mich an die Dauerwelle, die ihr von Mr s Downs aufgeschwatzt worden war, leidlich gewöhnt hatte. Doch ihr fröhliches Singen und Summen beim morgendlichen Abwasc h – zweifellos in Vorfreude auf ihren Tag hinter dem Tommy-Zau n – und die patzigen Bemerkungen, mit denen sie Ootis Nachfragen wegwischte, erschöpften mich; ich erstarrte vor Schreck und undefinierbarer Vorahnung, wenn sie mich meine Kleine nannte und ohne erkennbaren Grund in den Arm nahm. Schaurig war auch, dass ihr immer öfter englische Sätze entschlüpften, wenn sie mit uns am Tisch saß.
Komm zurück, Foor!, flehte ich im Stillen.
Und als hätte er auf mysteriöse Weise die Signale empfangen, begann mein Vater häufiger zu schreiben! Die Postbestimmungen waren gelockert worden, nicht zuletzt um das Rote Kreuz zu entlasten, das mit der Suche nach Vermissten alle Hände voll zu tun hatte. Foor benutzte Karten mit dem Stempel »Heimkehrerpost«, ein Wort, das ebenso ermutigend wie trügerisch war, da weder der Inhalt noch das abgestempelte Datum etwas mit Heimkehr zu tun hatten. Der Vorteil der Karten lag einzig darin, dass der Absender kein Porto zu zahlen brauchte.
Sobald eine Karte eintra f – in winziger, kaum zu entziffernder Schrift, um so viele Worte wie möglich unterzubringe n –, schrieben wir alle sofort zurück, auch Mem, aber obwohl ich Leni gegenüber etwas anderes behauptet hatte, glaubte ich nicht, dass der Name Captain Sullavan in einem ihrer Briefe auftauchte. Für mich selbst war ich zu dem Schluss gekommen, dass es nichts nutzte, Foor zu beunruhigen. Die Bäuerin, deren Mann gefallen war und die ihren Hof nur mithilfe ihres Kriegsgefangenen bewirtschaften musste, würde diesen mit Sicherheit nicht ziehen lassen, bloß weil dessen Frau mit einem Tommy ins Kino ging!
Allerdings fühlte es sich kaum weniger beunruhigend an zu schweigen, und ich merkte, wie mein Unbehagen darüber allmählich zu Ärger wurde. Ich hatte nicht die Absicht, mich mit Mem gegen Foor zu verschwören, und dennoch zwang sie mich dazu.
»Es ist nicht gut, Frauen und Männer so lange voneinander zu trennen«, bemerkte Nora. »Sich wieder neu kennenzulernen ist ein gutes Stück Arbeit.«
»Es gab aber doch Heimaturlaub«, wandte ich ein. »Wir haben meinen Foor erst vor zweieinhalb Jahren gesehen.«
Ich hatte Nora nicht nach ihrer Meinung gefragt, sie hatte von selbst davon angefangen. »Zweieinhalb Jahre sind eine lange Zeit«, erwiderte sie. »Alleinsein kann verdammt hart sein, Alice, und sag jetzt nicht, deine Mutter habe doch euch! Ja, das stimmt, und trotzdem kann sie sich noch etwas anderes vom Leben wünschen, als für die Mahlzeiten zu sorgen und ihre Kinder großzuziehen.«
»Als ob wir keine anderen Probleme hätten!«, rief ich. »Die Tommys wollen Helgoland sprengen, und meine Mem geht ins Kino!«
»Würde irgendetwas besser, wenn sie nicht ins Kino ginge? Im Gegenteil: Es tut ihr gut, es hält sie bei Laune, vielleicht hält es sie sogar gesund! Egal was noch auf euch zukomm t – um deine Mutter musst du dir jetzt weniger Sorgen machen als früher.«
Ich dachte an Noras Worte, während ich über die Platten am Rande von Frau Kindlers früherem Garten und jetzigem Kartoffelacker auf das Gebüsch zubalancierte, hinter dem der Tommy-Zaun lag. Ich mochte nicht einverstanden sein mit dem, was sie gesagt hatte, dennoch spürte ich, dass sie Recht hatte. Schon bald würden wir alle gute Laune brauchen, die wir mobilisieren konnten.
Ich schlüpfte durch die Hecke auf den etwa halbmeterbreiten Pfad vor dem Zaun. Die Mülltonne, die zu Captain Sullavans Haus gehörte, stand gut zwanzig
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