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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Tapferkeitsmedaille unterscheidet sich überhaupt nicht von der anderen, es ist genau dieselbe Medaill e – was heißt denn hier, weniger wert?«
    Graber stand stumm, wie geistesabwesend dabei, ich konnte nicht einmal sagen, ob er mich gesehen hatte. Als plötzlich Leben in ihn kam, zuckte ich unwillkürlich zusammen; selbst außerhalb des Klassenraums war seine angriffslustige Stimme durchaus in der Lage, Schüler in Schrecken zu versetzen.
    »Verbrechen? Sind Sie noch ganz bei Trost, Mann? Mein Sohn war ein treuer deutscher Soldat!«
    Der schmächtige alte Herr, der eine abfällige Bemerkung über Grabers Orden gemacht hatte, streckte den Rücken so gerade durch, dass er fast hintenüberfiel. »Sechs Millionen russische Ziviliste n … ermordet!«, begann er, aber weiter kam er nicht.
    »Lüge!«, schrie Graber und packte den Herrn am Kragen. »Kommunist!«
    »Wolfgang, lass los, lass los«, zeterte seine Frau.
    Ich warf meinen Beutel auf den Rücken und machte, dass ich davonkam. Grabers Stimme folgte mir über den Platz: »Sie beschmutzen nicht die Ehre meines Sohnes, Sie nicht!«
    War ihm bewusst, dass ich Zeugin dieser Szene geworden war? Zu meiner Erleichterung ließ Graber es mit keinem Wort erkennen, anderntags war er so böse und verlogen wie immer und das Einzige, was sich zwischen uns verändert hatte, war, dass ich jetzt eine Ahnung hatte, was hinter seinen Lügen steckte.
    Als ich den vor schlecht verhohlener Aufregung bebenden Herrn Helmand zwischen Nora und Wim stehen sah, wusste ich augenblicklich, was sie uns mitteilen wollten. Mem, Ooti, Frau Kindler, der Wranitzky und Frau Bolle ging es offenbar ebenso, denn ein erwartungsvolles Grinsen erfüllte den Raum, es spiegelte sich nahezu an den Wänden. Nur Henry schien in Gedanken wieder einmal ganz woanders zu sein.
    »Der Winter kommt mit großen Schritten«, holte Nora aus, als könne sie ihre eigene Neuigkeit nicht schon von unseren Gesichtern ablesen, »und wir sind übereingekommen, dass Herr Helmand ihn nicht im für Wohnzwecke völlig ungeeigneten Bunker verbringen sollte.«
    Herr Helmands freudiges Beben ließ ein wenig nach, er runzelte die Stirn.
    »Wir warten alle auf bessere Zeiten«, fuhr Nora fort, »warum also nicht gemeinsam? Und da wir den Eindruck gewonnen haben, in diesem Haus mittlerweile auch zu dritt womöglich nicht gänzlich unwillkommen zu sei n …«
    Herr Helmand warf Nora einen unleugbar enttäuschten Seitenblick zu. Nora selbst schien die Nüchternheit ihrer Ansprache nun auch aufzufallen; den begonnen Satz brach sie ab, stand eine Sekunde stumm da, dann sagte sie: »Man muss doch für klare Verhältnisse sorgen.«
    »Die liebe Nora«, unterbrach Herr Helmand endlich und verhakte seinen Arm mit dem ihren, »hat zu meiner großen Freude eingewilligt, meine Frau zu werden.«
    Erleichtert brachen alle in Applaus aus und ein Sturm von Glückwünschen erhob sich. Ich hätte mir gewünscht, die Erste zu sein, die Nora gratulierte, aber ich kam erst an die Reihe, nachdem alle Erwachsenen fertig und nur noch Henry und ich übrig waren.
    Deshalb gratulierte ich in der Zwischenzeit schon einmal Wim. Er strahlte übers ganze Gesicht, als ich meinen »Herzlichen Glückwunsch« loswurde. »Das kannst du laut sagen!«, meinte er so erleichtert, als sei er eine sehr, sehr lange Strecke gelaufen und endlich im Ziel.
    Sosehr ich mich mit ihm freute, so verwundert war ich doch über diesen Überschwang, aber ich kam nicht dazu, zu rätseln. Henry streckte Wim die Hand hin, erklärte ernst: »Ich gratuliere«, und fügte vier kleine Worte hinzu, die eine Schockwelle durch meinen ganzen Körper jagten.
    »Und danke noch mal«, sagte mein Bruder zu Wim.
    »Du musst es mir sagen!«
    »Warum ich? Ich denke, ihr seid so dick miteinander. Frag ihn doch selbst!«
    »Es geht um Leben oder Tod, glaub mir. Ich muss wissen, ob du ihm etwas beschafft hast!«
    Wims abweisendes Gesicht brachte mich fast zur Verzweiflung. Obwohl ich ihn inzwischen gut genug kannte, um zu erkennen, dass er bei meinen Worten durchaus nervös wurde, rückte er nicht damit heraus, wofür Henry sich bei ihm bedankt hatte.
    »Du machst dich mitschuldig, wenn du es mir nicht sagst!«, fuhr ich ihn an.
    Seine Augen blitzten. »Du spinnst wohl!«
    »Hast du ihm eine Pistole besorgt?«, fragte ich geradeheraus. »Du brauchst es nicht zu sagen, es reicht, wenn du nickst!«
    »Eine Pistole?«, erwiderte Wim mit so schiefem Grinsen, dass es Antwort genug war. »Wozu sollte der alte

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