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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Verantwortung abstritt, sosehr hoffte ich doch, dass er wenigstens den Anstand hatte, nun seinerseits die Augen offen zu halten.
    Am liebsten hätte ich ihm auch vorgeworfen, wie enttäuscht ich war, dass er hinter meinem Rücken mit Henry Geschäfte machte, aber dazu war ich zu stolz. Nur ein einziges Mal ließ ich alle Vorsicht fallen und klagte: »Ich weiß nicht, ob ich dir noch trauen kann.«
    Wim grinste schief und sagte nichts, aber es war ein Ausdruck, den ich gut genug kannte, um zu wissen, was er bedeutete. Auch Wim traute mir nicht.
    Der Sommer war vorbei. Wim und Nora mochten ihn für kurze Zeit verzaubert haben mit ihrem Trotz, ihrem Mut und den kleinen Abenteuern, die wir zusammen erlebt hatten, aber gewendet hatten sie nichts. Herr Goldstein, der Garten, unsere Schwarzmarktkarrier e … als hätte ich mir all dies nur eingebildet, wurden die Karten am Ende des Sommers einfach wieder eingesammelt und neu gemischt. Und schlecht gemischt noch dazu, denn obenauf lagen dieselben Karten wie im letzten Jahr: der Winter, der Hunge r – und der Verräter.
    War es ein Zufall, dass der arme Leo am gleichen Tag vor die Spruchkammer treten musste, an dem in Nürnberg das Urteil über die Hauptkriegsverbrecher gesprochen wurde? Erwies es sich vielleicht sogar als günstig? Verglichen mit den Anklagen gegen Göring, Heß und Ribbentrop musste der Beitritt eines kleinen Brauereibesitzers zur Nationalsozialistischen Partei als Bagatelle erscheinen, selbst wenn der arme Leo bei jedem Aufmarsch in der zweiten Reihe mitgelaufen war und die Fahne geschwenkt hatte.
    Ooti verbrachte den Nachmittag damit, Frau Kindlers Hand zu halten und diese Argumentation ein ums andere Mal zu wiederholen, während Frau Kindler bejammerte, dass der arme Leo in seinem ganzen Leben noch nie etwas richtig gemacht hatte und es ihm ähnlich sah, ausgerechnet jetzt vor Gericht zu stehen, wo ihre Herztropfen aus waren.
    Ich stand im Flur zwischen der Radiostimme, die in Wollanks Zimmer Todesurteile verlas, und der in regelmäßigen Abständen aus Frau Kindlers Zimmer dringenden Voraussage: »Das überlebe ich nicht, Winnie.« Bei Bolles und Wranitzkys standen die Türen offen und auch Mem und Henry saßen stumm auf der Treppe und hörten zu.
    Wunderten sie sich nicht, dass ich schon den dritten Nachmittag zu Hause blieb, anstatt meine Mehltütchen zu verkaufen? Tatsache war, dass ich in Henrys Nähe bleiben wollte. Tatsache war aber auch, dass ich mit Wim gegangen wäre, wenn er gefragt hätte. Tatsache war, dass ich, wenn er gefragt hätte, ob ich zum Schwarzmarkt mitkomme, ihm gegenüber mit keinem Wort mehr auf die Pistole zu sprechen gekommen wäre!
    Leider hatte Wim nicht gefrag t – seit drei Tagen nicht, obwohl ich mir bereits Worte zurechtgelegt hatte, um erst einmal scheinbar abzulehnen. Du und deine Geschäfte! Weil du überall Geld witterst für dein blödes Südamerika, kann ich jetzt nichts mehr verdienen!
    Wim wusste nicht, dass Henry die Pistole aus meiner Kasse bezahlt hatte, aber wenn er es nicht bald erfuhr und wenigstens einen Teil dessen zurückgab, was er von Henry kassiert hatte, war es vorbei mit meinem Mehl- und Zuckerhandel. Ein paar Hundert Gramm besaß ich noch, aber die Einnahmen würden beim derzeitigen Preisauftrieb nicht reichen, um größere Mengen neu einzukaufen. Obwohl ich mich dagegen sträubte, realisierte ich allmählich, was das bedeutete: Sobald ich meine letzten Tütchen verkauft hatte, war ich arbeitslos.
    Dieser Idiot!, dachte ich und sah fassungslos zu meinem Bruder hinüber.
    Dabei fühlte ich weniger Ärger auf Henry, der sich aus meiner Kasse bedient hatte, als auf Wim, in dessen Taschen das Geld geflossen war. Ich wusste, warum Henry es getan hatte, und dass ich daran nicht unschuldig war. »Wenn du etwas schwörst, hängst du mit drin«, hätte er jedes Recht gehabt, mir zu antworten. »Dann kannst du es dir nicht einfach anders überlegen!«
    »Tod durch Erhängen«, verkündete die Stimme des Chefanklägers zum fünften oder sechsten Mal und rief den nächsten Namen auf, gefolgt von derselben Serie von Anklagepunkten: Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
    Ich will nicht, dass Henry jemanden erschießt, dachte ich verzweifelt. Ich will, dass wir alle noch hier sind, wenn Foor nach Hause kommt! Ich will Henrys Artikel in James’ Zeitung lesen, ich will, dass wir uns Helgoland zurückholen, ich will Noras Hochzeit erleben und mit Wim

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