Unterland
nicht das Geringste sagen kann. Sie waren angenehme Menschen und dazu steh ich.«
»Dazu darfst du jetzt auch stehen, Mutter«, erinnerte Mem sie kühl. »Eins dürft ihr uns glauben, Kinder: Wir haben nichts gewusst. Was den Juden passiert ist, haben wir erst letztes Jahr erfahren, als die Tommys es überall verbreiteten.«
»Was dachtet ihr denn, wohin sie alle verschwunden waren?«, kam es überraschend von Henry, der uns immer noch die Schulter zuwandte.
»Das kannst du die Festländer fragen, aber nicht die Helgoländer«, erwiderte Mem. »Wir hatten keine Juden mehr, also konnten wir auch nicht merken, dass sie verschwanden.«
Henry schnob kurz durch die Nase angesichts dieser zwingenden Logik. »Ich denke, ich habe mich klar genug ausgedrückt«, sagte Mem beleidigt.
»Aber ein Lager«, erinnerte ich mich plötzlich, »hatten wir auch. Sie hatten immer Hunger, die Russe n – weißt du noch, Ooti? Grofoor Krüss hat an einer Stelle auf ihrem Weg zur Arbeit Brot versteckt und musste dafür ein paar Tage ins Gefängnis.«
Ooti nickte. »Die armen Kerle. Was mag aus ihnen geworden sein? Sie wurden nach dem Angriff an uns vorbei durch den Stollen geführt, aber was dann passiert ist, weiß der Himmel.«
Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. »Wenn noch mal welche einen Krieg anfangen wollen, Kinder, dann seht nicht einfach zu. Tut etwas! Sonst könnt ihr euren eigenen Kindern hinterher nicht mehr in die Augen sehen.«
»Unsinn, Mutter! Was hätten wir denn groß tun können?«, fragte Mem ärgerlich.
In diesem Augenblick ließ Henry seine Bombe platzen. Es war typisch für meinen Bruder, von einer Sekunde auf die andere das Thema zu wechseln. Es funktionierte nicht immer, aber diesmal landete er einen Volltreffer.
»Die Tommys wollen uns besuchen«, teilte er unvermittelt mit.
Es wurde schlagartig still. Henry hob den Kopf und blickte in unsere verdatterten Gesichter. »Ned und Tom haben einen Vorgesetzten, der auch von einer Insel stammt. Den wollen sie mit uns bekannt machen.«
»Um Himmels willen, Henry«, stöhnte Mem nach einer weiteren Schrecksekunde.
»Sonntags passt es ihnen am besten. Zu essen würden sie mitbringen«, ergänzte mein Bruder eine Spur kleinlaut.
»Ja, ist denn das überhaupt erlaubt?«, fragte Ooti streng.
»Sie sagen ja. Andere machen das schon längst! Sie gehen in deutschen Häusern ein und aus und lassen sich ihre Hemden bügeln.« Henry erwärmte sich sichtlich für die Sache. »Vielleicht springt ein Job dabei heraus, dann müsstest du nicht mehr Steine klopfen, Mem.«
»Ich nehme an, es sähe nicht gut aus, wenn wir ablehnten«, konstatierte Ooti.
»Moment mal!«, wandte Mem ein. »Wir haben die Küche nur für eine halbe Stunde, und im Zimmer gibt es nicht einmal einen Tisch!«
»Den könnten sie auch mitbringen«, behauptete Henry.
Ein Hin- und Herwerfen von Fragen setzte ein. Wo der Tisch stehen konnte und woher wir genügend Sitzgelegenheiten bekamen, wie wir das Essen, selbst wenn die Tommys es mitbrachten, wärmen konnten, wenn es gerade keinen Strom gab. Aber die naheliegendste Frage fiel niemandem ein!
Nicht, dass ich überhaupt etwas hatte sagen wollen. Dank des Schwarzmarkts war ich zwar dabei, mich an den Anblick von Tommys zu gewöhnen und es sollte mich nicht einmal überraschen, wenn ich Ned und Tom, ohne es zu wissen, bereits kennengelernt hatte. Aber Tommys in unserem eigenen Zimmer zu habe n …!
»Was soll denn das für eine Insel ein?«, fragte ich misstrauisch.
»Sie heißt Guernsey«, antwortete Henry wie aus der Pistole geschossen. »Natürlich kommen alle Engländer von einer Insel, wie du weißt, aber einige kleine britische Inseln liegen im Ärmelkanal zwischen England und der Küste. Sie heißen Kanalinseln und die Deutschen haben sie im Krieg besetzt, um einen Atlantikwall zu bauen.«
»Das dürfte deine Tommys ja sehr für uns einnehmen«, bemerkte ich und legte mir eine Hand auf den Kopf, um das Prickeln zu beruhigen.
Natürlich hatte ich es gewusst. Es gibt schließlich Landkarten! Aber es sich einzugestehen, war eine völlig andere Sache. »England mag von Wasser umgeben sein«, knurrte ich, »aber für eine richtige Insel ist es viel zu groß. Es zählt nicht.«
»Ja, was meinst du denn? Wenn ein Land rundum von Wasser umgeben ist, ist es eine Insel, egal wie groß es ist!«
»Theoretisch vielleicht, aber es gibt kein Insel gefühl , wenn es so groß ist wie England!«
»Aha. Und woher willst du das wissen?«
»Das
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