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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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krachend schlugen sie auf dem Boden auf. »Und weiter?«
    Ich starrte ihn an. Mein Hirn war wie ausgehöhlt. Nur zwei Worte waren noch da: diese Lager , und eine kleine Stimme, die mich davor warnte, sie noch einmal zu wiederholen.
    »Diese Lager hat es nicht gegeben, Herr Graber«, fiel Henry ein und stand rasch auf. »Das haben Sie gesagt. Um genau zu sein: Das ist niemals passiert. «
    »So ist es, Heinrich.«
    Mein Bruder setzte sich wieder. Graber beugte sich vor, abgestandener Atem streifte mich. »Und? Ich warte, Tock-tock. Gib dir die Antwort selbst, und zwar laut, damit wir es alle hören.«
    »Diese Lager hat es nicht gegeben. Das ist niemals passiert.«
    »Noch einmal. Lauter.«
    »Diese Lager hat es nicht gegeben. Das ist niemals passiert.«
    »Noch einmal, Tock-tock. Und dreh dich um, in der letzten Reihe hat dich bestimmt niemand gehört. Oder, Gebhard? Hast du ein Wort verstanden?«
    Ulf Gebhard zuckte zusammen, senkte den Kopf und murmelte seiner Bank etwas zu, das ebenso gut ein Ja wie ein Nein sein mochte, aber auf Sigrid Larsen war Verlass, sie wedelte eifrig mit dem Arm. »Ich hab sie nicht mal in der vorletzten Reihe gehört, Herr Graber.«
    Ich starrte über sämtliche Reihen hinweg auf die bröckelnde Wand, die gleichgültig meine Antwort entgegennahm.
    »Diese Lager hat es nicht gegeben. Das ist niemals passiert.«
    »Danke, Tock-tock. Du kannst dich setzen. Mit deiner Hilfe ist es jetzt hoffentlich allen klar.«
    Ich setzte mich. Henry und ich versuchten einander nicht anzusehen, aber andere Blicke fühlte ich im Rücken wie Nadelstiche. Immerhin, schräg gegenüber hob jemand meine Krücken auf. Ob Wim mir geholfen hätte, wenn er mit uns zur Schule ging e …?
    Aus Grabers Wut machte ich mir nichts, ich verachtete ihn. Aber Angst hatte ich trotzdem. Denn wenn mir bei seinem Auftritt etwas klar geworden war, dann dies: Die Wahrheit über uns musste noch viel schlimmer sein, als die Erwachsenen zugaben.
    Herr Goldstein erkundigte sich regelmäßig, wie die Geschäfte liefen, und gab uns den einen oder anderen Tipp: »Da drüben verkauft jemand Saatgut. Ich an eurer Stell e …« Nie fragte er, wann wir ihm seine Stange Zigaretten zurückzugeben gedachten, aber ich wurde trotzdem unruhig, wenn ich ihn sah, vergaß nicht, dass wir ihm etwas schuldeten, und fragte mich, ob er uns so sehr hassen konnte, dass er die Absicht verfolgte, uns zu schaden.
    Wim jedoch meinte: »Wir haben ihm keinen Anlass gegeben, uns zu hassen. Er ist korrekt, wir sind korrekt. Nur so geht es, und so muss es bleiben.«
    Sicherheitshalber trugen wir immer nur einen Teil der Ware bei uns, die wir aufgekauft hatte n – Zucker und Mehl, die wir in Tüten zu hundert Gramm abfüllte n – und nicht mehr Geld, als wir zum Wechseln benötigten. Auf diese Weise machten wir zwar keine großen Geschäfte, aber liefen auch nicht Gefahr, bei einer Razzia unseren gesamten Einsatz zu verlieren.
    Heimlich entwickelte ich einen weiteren Trick: Sobald ich nach einigen Stunden merkte, dass meine Aufmerksamkeit nachließ, stellte ich mir vor, auf die Ladefläche eines Lastwagens geschubst und weggebracht zu werden, weit weg, ohne jemandem Bescheid sagen zu können. Allein dies reichte aus, um mich auf der Stelle wieder so wachsam zu machen, dass ich bestimmt nie geschnappt werden würde!
    Auf dem Rückweg nach Hause machten wir meist am Tauschladen halt, um nach unserem Bügelbrett zu sehen. Es war der Laden, in dem Wim das Taschenmesser hatte mitgehen lassen und anfangs hatte ich mich kaum hineingetraut; da uns jedoch niemand verdächtigte, kam es mir inzwischen fast so vor, als hätte ich mir den Diebstahl, mit dem unsere Schwarzmarktkarriere begonnen hatte, nur eingebildet.
    Tauschen mussten wir nichts. Wollanks hatten einen kleinen Topf, zwei Teller, Tassen und Löffel auf Bezugsschein ergattert und wir kamen mit unserem Wertbon für das Bügelbrett nur noch aus reinem Spaß. Die Regale entlangschlendernd, erkundeten wir, was es Neues gab, und spekulierten, wie wir mit unseren völlig neuen Möglichkeiten an das eine oder andere Tauschgut gelangen konnten, um weitere Punkte zu ergattern für eine ganz besondere Anschaffung. Nichts schien mehr undenkbar, wir verließen den Laden voller Pläne und ich hätte nie für möglich gehalten, wie anregend es war, ein Bügelbrett zu besitzen.
    Herr Goldstein ging mir trotzdem nicht aus dem Kopf. »Wenn es diese Lager gab«, begann ich von Neuem, »was genau ist mit den Juden eigentlich

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