Unterland
passiert? Sind sie dort verhungert?«
»Das auch«, erwiderte Wim, »aber wegen der Lager musst du Lou fragen. Mir hat sie freiwillig nichts erzählt und ich habe ehrlich gesagt auch nicht gefragt. Mir hat gereicht, sie zu sehen, als sie zurückkam.«
»Wieso denn Lou?«, fragte ich verdutzt.
»Sie war in Schöbritz. Das ist ein Lager, in das die Tschechen nach dem Krieg die Deutschen gesperrt haben.«
»Klar«, sagte ich automatisch, weil ich das alles jetzt vielleicht doch nicht mehr genau wissen wollte, aber einmal losgelassen, kannte Wim kein Halten mehr.
»Ich könnte dir ein paar Sachen erzählen, die den Juden außerhalb von Lagern passiert sind«, bot er an. »Sie trugen gelbe Sterne, damit sie zu erkennen waren. Der Stern war wie eine Einladung: Man durfte einen Juden misshandeln, zu lächerlichen Arbeiten zwingen, man durfte ihm Haare und Bart abschneiden, ihm die Wohnung wegnehmen und ihn auf Knien durch die Stadt treiben. Juden mussten den Bürgersteig verlassen, wann immer Deutsche entgegenkamen. Keine öffentlichen Verkehrsmittel, kein Radio, kein Kino. Einkauf nur abends, aber kein Fleisch, keine Milch, keine Butter. Man durfte auf einen Juden schießen, ihn an jedem beliebigen Laternenpfahl aufhängen oder von Brücken ins Wasser werfen und dann auf ihn schießen, man durfte ihn bei lebendigem Leibe anzünde n …«
»Hör auf!«, rief ich. »Das denkst du dir doch aus!«
»Kopf zuunterst an einen Baum hängen und anzünden«, bekräftigte Wim ungerührt. »Dauert lange. Hat eine Menge Selbstmorde gegeben danach.«
»Und woher willst du das alles wissen, du Quatschkopf?«
Wim hob die Schultern. »Jeder in Aussig weiß, was den Juden passiert ist. Bei allem, was sie mit uns gemacht haben, haben die Tschechen gesagt: ›Das habt ihr euch selber ausgedacht. Genau das und noch viel Schlimmeres habt ihr den Juden angetan, also seid still.‹ Lou wollte uns beide umbringen, als sie mit den Armbinden anfinge n – weiße Armbinden mit einem N für Nemec , Deutscher. Hat pausenlos gesagt: ›Das ist nur der Anfang!‹ Hat versucht, an eine Waffe zu kommen, aber die waren alle eingesammelt worden. Das Gas hatten sie uns auch abgestellt. Blieb nur Erhängen, und das ist der Grund, warum ich überhaupt noch vor dir stehe. Vor Erhängen schreckten wir denn doch zurück, nachdem es bei unserer Nachbarin über eine Stunde gedauert hat. Wir waren ja gleich nebenan. Hör auf meinen Rat, versuch es nie an einer Heizung!«
Ich hatte plötzlich das seltsame Gefühl, dass die Straße ganz weich geworden war, dass meine Krücken im Asphalt versanken. Nein, so etwas dachte sich niemand aus.
Wie durch Watte hindurch hörte ich Wim sagen: »Ganz so schlimm kam es dann doch nicht. Unsere Nachbarn haben mich im Keller versteckt, während Lou in Schöbritz war. Nicht alle Tschechen haben mitgemacht, als es gegen die Deutschen ging. Die schlimmsten waren auch überhaupt nicht aus Aussig, sondern Revolutionsgarden aus Prag, aber Einheimische, die gegen die Strafaktionen waren, mussten den Mund halten, sonst wäre es ihnen selbst an den Kragen gegangen.«
»Und dein Vater?«, brachte ich heraus.
Aber Wim schüttelte nur den Kopf und sagte knapp: »Der kommt nicht mehr.«
Wir überquerten eine große, wie gefegt wirkende Freifläche, von der die Trümmer bereits komplett geräumt waren. Die Brache war in Parzellen aufgeteilt worden; auf dem Rathaus konnte man sich um ein Stückchen Land bewerben, um eigenes Gemüse anzubauen. Auch Mem und Ooti waren bereits dort gewesen, um unsere Ansprüche anzumelden; als Inhaber des Flüchtlingsausweises standen uns sogar Vergünstigungen zu.
Der staubige Wind, der über die Brache fegte, half, wieder Luft zu bekommen. »Es tut mir leid wegen deinem Vater«, sagte ich zu Wim und es kam mir vor, als sei eine Ewigkeit vergangen zwischen seinem Bericht und meinen Worten.
»Ach!«, erwiderte er. »Lou ist noch nicht alt. Ihr Haar wächst nach, sie wird wieder gut aussehen. Es herrscht nicht gerade Männerüberschuss, aber sie findet bestimmt jemanden.«
Mittlerweile wusste ich, dass Wim kein Blatt vor den Mund nahm, aber diese Bemerkung erschien mir so überflüssig, so unerwartet herzlos, dass ich mein Mitgefühl auf der Stelle verraten fühlte. »Ja, würdest du das denn wollen? «, fragte ich empört.
»Wenn es ein vernünftiger Kerl ist, der uns aus Hamburg heraushol t – warum denn nicht?«
»Na, dann viel Erfolg«, erwiderte ich spitz. Ich konnte gar nicht sagen, warum es
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