Unterland
mich störte, dass er schon wieder von Südamerika anfin g – schließlich wollten auch wir nicht in Hamburg bleiben. Vielleicht weil so vieles, was wir miteinander erlebten, Wim so wenig zu bedeuten schien: Herr Goldstein, unser Job, der Tauschladen.
»Kurz vor der Grenze haben alle ihre Armbinden aus dem Zug fliegen lassen«, ergänzte Wim, ohne sich an meiner Kratzbürstigkeit zu stören. »Ein Schneesturm von weißen Stofffetzen!«
»Wo sind eigentlich eure Verwandten?«
»Die meisten in Süddeutschland. Wir durften nach Hamburg weiterreisen, weil die Familie meines Vaters hier wohnt. Wohnte!«, verbesserte er sich. »Vom Haus ist nichts mehr übrig. Lou meint immer noch, von den sieben Personen muss doch irgendjemand am Leben geblieben sein, aber die Nachbarn sagen, die sind alle im Keller erstickt.«
»Und deshalb seid ihr bei uns gelandet.«
»Na, freiwillig bestimmt nicht!«, meinte Wim und lachte.
Achtung, du Döskopp!, dachte ich und warf ihm listig den Fingerzeig hin: »Wir ja auch nicht. Aber ich finde es auf jeden Fall netter, seit ihr auch hier seid.«
Gleich darauf war ich um eine weitere Erkenntnis bereichert: Listige Fingerzeige sind an Jungs komplett verschwendet.
»Insgesamt hätten wir es schlechter treffen können«, bestätigte Wim.
Was ich von Wim erfahren hatte, erzählte ich abends auf unserem Zimmer weiter. Er hatte nichts davon gesagt, dass ich es für mich behalten müsse, und überhaupt hatte ich das Gefühl, dass es bereits genug Geheimnisse in diesem Haus gab. Mem und Ooti hörten sich ruhig an, was den Wollanks widerfahren war; an der einen oder anderen Stelle nickten sie traurig, als hätten sie das alles ohnehin schon geahnt. Henry saß über sein Schreibheft gebeugt, während ich erzählte; er war auf den allerletzten Seiten angekommen und stand, obwohl seine Schrift winziger geworden war als Fliegenschiss, kurz davor, sein Hobby wieder aufgeben zu müssen. Ich war daran gewöhnt, bei ihm höchstens mit geteilter Aufmerksamkeit rechnen zu können, registrierte jedoch zufrieden, dass er wenigstens aufhörte zu schreiben.
Was mich selbst betraf, so setzte mein Denken, das bei Wims Geschichte vorübergehend ins Stocken geraten war, wieder ein, als ich mich selbst erzählen hörte. Selbst Worte finden zu müssen warf Fragen auf, die ich zuvor ganz übersehen hatt e – zum Beispiel, wie man aus dem Erleben der Juden auf das Erleben der Wollanks kam und umgekehrt, und wie trotz dieser Lücke, die ich nicht zu schließen vermochte, die Erwachsenen sofort verstanden, dass beides zusammenhing.
»Wieso habe ich nie einen Judenstern gesehen?«, fragte ich.
»Weil es auf Helgoland keine Judensterne gab«, sagte Mem kurz angebunden.
»Nur keine Sterne ode r …«
»Es gab nur eine jüdische Familie auf Helgoland«, sagte Mem und nannte mir den Namen. »Jeder wusste Bescheid. Wozu ein Stern? Die wenigen Male, die der Führer auf der Insel war, mussten sie ihren Laden schließen und von der Straße verschwinden, aber sonst wurden sie nicht behelligt. Der Vater hatte Ehrenämter, die Kinder waren im Sportverein.«
»Aber die anderen sind gegangen«, erinnerte sie Ooti. »Dem Bankier aus Frankfurt haben sie ein Juden-raus -Schild umgehängt und ihn öffentlich aufs Schiff gesetzt.«
»Um zu zeigen, dass Helgoland die Vorgaben erfüllte! Der Bankier war am besten geeignet, der hatte ja noch eine Wohnung in Frankfurt.«
»Einer musste dran glauben. Das macht es nicht schöner«, erwiderte Ooti, aber Mem schnappte: »Tu nicht so, als hätte jemand von uns etwas ausrichten können!«
»Was denn für Vorgaben?«, fragte ich.
»Die Inseln sollten judenfrei werden. Das war von oberster Stelle beschlossen. Es war eine schwierige Situation, Alice, du verstehst das nicht. Juden durften bei Deutschen nicht mehr arbeiten, so war das Gesetz. Einer, der einer Jüdin Arbeit gegeben hat, ist verhaftet worden, den Friseur, der nicht aufhören wollte, Hitler-Witze zu erzählen, haben sie sogar aufgehängt. Nichts blieb verborgen, der Gemeinderat war abgesetzt, auf allen wichtigen Posten saßen Nazis und passten auf. Die wenigen Juden, die auf Helgoland lebten, gingen dann einer nach dem anderen, um auf dem Festland ein Auskommen zu finden. Das war noch vor dem Krieg und vor den Judensternen. Dass die eine Familie blieb, war nicht selbstverständlich!«
»Unsere jüdischen Gäste durften nach achtunddreißig nicht mehr kommen«, erinnerte sich Ooti. »Vornehme, höfliche Leute, gegen die ich
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