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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ich entgegnete: »Na und? Du etwa nicht?«
    Wim grinste schief und antwortete nicht. Dass ich ins Schwarze getroffen hatte, wurde mir erst viel später klar: Bei all seiner Tüchtigkeit musste Wim die ganze Zeit Angst davor gehabt haben, dass das wankelmütige, ungerechte, unzuverlässige Glück ihn wieder verließ.
    Die Tage bis zu meinem Arzttermin zogen sich hin. Zwar brachte mir Henry die Schulaufgaben und ließ mich Mem zögernd und unter Ermahnungen unsere einzige, kostbare, wenn auch schon ziemlich stumpfe Nähnadel benutzen, um Kleidungsstücke auszubessern. Besonders Henry war im letzten Jahr gewachsen und seine Pulloverärmel mussten durch Ansätze verlängert werden, die Mem von der schmalen Seite ihrer eigenen Schlafdecke abtrennte.
    Zwar lieh mir Wim sein Buch, den »Lederstrumpf«, dem hundert Seiten Mittelteil fehlten; er hatte es im Flüchtlingslager in Sachsen gefunden und vermutete, dass die fehlenden Seiten dem Mangel an Klosettpapier zum Opfer gefallen waren. Großzügig borgte er mir sogar sein Radio und ich verbrachte eine Mittagsstunde mit dem Hören der Suchmeldungen, die das Rote Kreuz jeden Tag zur selben Zeit durchgab.
    Die kleine Beate, etwa vier Jahre alt, gefunden im Zug aus Danzig, sucht ihre Mutti. Soldat Helmut Weiß, geboren am 12 . Januar 1905, zuletzt wohnhaft in Stuttgart, Kronprinzenstraße, sucht seine Famili e …
    Aber die ganze Stunde ging mir nicht aus dem Kopf, wie viel von unserem Stromkontingent ich dabei verbrauchte, sodass ich Wim das Radio am selben Abend doch lieber wieder zurückgab. Zwar taten alle ihr Möglichstes, um mir Abwechslung zu verschaffen, aber in diesen vier Wochen stellte ich fest, dass die Zeit totzuschlagen die anstrengendste aller Arten ist, einen Tag zu verbringen.
    »Vielleicht versuchst du es hiermit«, sagte Henry schließlich und streckte mir etwas verlegen sein Geschichtenheft hin.
    Ich nahm es nicht weniger zögerlich an, als er es mir überreichte. Am liebsten hätte ich Nein gesagt. Es schien mir eine zu große Verantwortung, die Erste zu sein, die über Henrys Talent als Schriftsteller ein Urteil fällen musste, aber die Neugier überwog, und nachdem Henry sich mit Ooti auf den Weg zu unserem Garten gemacht hatte, wo sie jeden Nachmittag Schutt abräumten und den Boden umgruben, warf ich einen Blick hinein.
    Er war schon ein gebrauchter Hund, als wir ihn bekamen. Er hatte unserem Nachbarn Jörn gehört, aber nachdem Jörns Mutter die Nachricht bekommen hatte, dass ihr Sohn gefallen war, wollte sie seinen Hund nicht länger behalten. Moortje war pechschwarz, so schwarz, dass man sein Gesicht erst erkennen konnte, wenn man direkt vor ihm stand, und er reichte Alice bis zur Hüfte. Moortje hatte genau die richtige Größe für jemanden, der neun Jahre alt war und gerade wieder lernen musste, wie man läuft.
    Zwischen langen Spalten mit Abrechnungen der Brauerei Kindler sprang mir jäh das freundliche, erwartungsvolle Gesicht meines Hundes entgegen, seine schwarzen Locken und bernsteinfarbenen Augen, seine rosa Zunge, die immer ein kleines Stück aus der Schnauze heraushing. Seine riesigen Pfoten stellten sich schwer auf meine Schultern, ich hörte das wohlwollende Klopfen seines Schwanzes in der Dunkelheit, wenn man nachts an ihm vorbei zum Klo musste, und das helle, aufgeregte Fiepen seiner Träume.
    Ich hielt den Atem an und las und las. Und Ootis Garten auf dem Oberland sprang mir entgegen, mit den bunten Wimpeln am Zaun, um die Stare zu vertreiben, der Duft nach Tabak und Schokolade in Mems Laden und das Tuckern, mit dem die Fischerboote noch in der Dunkelheit des frühen Morgens ausliefen. Das Knirschen unserer Schuhe im Kies, wenn wir gegen Ende der Flut nach Bernstein suchten, und das Tuten des Dampfers, der zwar keine Touristen mehr, aber Post, Lebensmittel und Nachrichten vom Festland brachte.
    Als ich Henrys Heft ausgelesen hatte, wusste ich eine Minute lang überhaupt nicht mehr, wo ich war. Dann spülten Frau Kindlers Schritte im Zimmer über mir das letzte Jahr in die Erinnerung zurück wie ein Häuflein zerborstenes Strandgut. Unsere dünnen Matratzen, unsere einzige stumpfe Nähnadel, die Sperrholzkisten mit unseren wenigen Kleidungsstücken und das Bein, das nutzlos hinter meiner Matratze lag.
    Der Inselbewohner neigt nicht zu Gefühlsausbrüchen, dafür ist auf wenigen Quadratkilometern einfach nicht genug Platz, aber plötzlich ergriff mich eine so große, überwältigende Wut, dass mir ganz ohne Krüppelturnen warm wurde bis

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