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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Vorstellung selbst. »Oh, you must be Mem«, freuten sie sich; sie sprachen es respektvoll wie »Ma’am« aus, was meine Mutter zum Strahlen brachte, aus Ooti wurde »Grandma« und mich identifizierten sie problemlos als »Henry’s little handicapped sister«. Daraufhin versuchten alle, ihren Blick nicht auf meine Beine zu lenken, was ich ihnen hoch anrechnete, obwohl ich mir größte Mühe gegeben hatte, es so einzurichten, dass es dort auch nichts Nennenswertes zu sehen gab. In Hamburg wurden Hosen in allen Varianten getrage n – kurze und lange Hosen, Hosen aus Stoff, aus Wolle, aus Leder, aus Gummi und sogar aus Papier. An mir jedoch befand sich die vermutlich einzige Hose in ganz Hamburg mit eingenähtem Bein.
    »What’s your name, dear?«, fragte Captain Sullavan und rief, nachdem er es erfahren hatte, herzlich aus: »But that’s the name of my little sister, too!«
    Ich fühlte, wie sich meine Mundwinkel an den Seiten auseinanderzogen und völlig ohne mein Zutun die oberen Vorderzähne freigaben zu einem erfreuten Grinsen. Verwirrt legte ich eine Hand auf meinen Kopf, worauf Captain Sullavan stutzte, lachte und dasselbe tat; wahrscheinlich hielt er die Geste für ein Helgoländer Begrüßungsritual.
    Sein Lachen war nett. Seine grauen wuscheligen Haare waren nett, die blauen Augen und die wettergegerbte Haut. Er hatte kräftige sommersprossige Hände, die aussahen, als könnten sie Knoten binden, Segel setzen, ein Seil packen und schwere Hummerkästen aus dem Wasser ziehen. Es war schockierend: Der ganze Tommy sah so sehr nach Insel aus, dass man beinahe Salzwasser schnupperte.
    Wir führten unsere Gäste zu Tisch. Es war der Küchentisch mitsamt Bank und Stühlen, die Mem und Henry nach Absprache mit den übrigen Bewohnern ausgeliehen und durch den Flur ins Zimmer geschleppt hatten. Die Matratzen standen an die Wand gelehnt hinter den beiden Sperrholzkisten, die uns als Schrank dienten. Mehr musste man nicht verändern, zum ersten Mal war es von Vorteil, dass wir einen praktisch leeren Raum bewohnten.
    Auch für Strom war gesorgt. Seit dem Ende des Winters arbeiteten die Zechen im Ruhrgebiet störungsfrei und lieferten Kohlen nicht nur als Reparationsleistung an die Alliierten, sondern auch an unsere eigenen Elektrizitätswerke, sodass die Stromsperren sich auf den Abend beschränkten und ein fast schon normaler Tagesablauf möglich wurde. Die drei Tommys verliehen denn auch prompt ihrem Wohlwollen darüber Ausdruck, dass ein Land, das sich selbst so komplett zerstört habe wie Deutschland, bereits in so vielen Bereichen wieder funktioniere.
    Wahrscheinlich wollten sie im Gegenzug hören, wie gut sie die Lage im Griff hatten, und richtig: Mem tat ihnen den Gefallen und pries unsere Besatzer für deren Großmut und »die richtigen Prioritäten«. Überhaupt waren sich alle im Zimmer, noch bevor wir uns zu Tisch gesetzt hatten, darüber einig, dass die britische Zone die beste von allen vieren sei.
    »Ihr wisst ja, wie die Zonen verteilt wurden!«, meinte Captain Sullavan augenzwinkernd. »Die Russen bekamen die Landwirtschaft, die Franzosen die Industrie, die Amerikaner das Panorama und die Engländer die Ruinen.«
    »Stimmt. Wenn man sich ansieht, was ihr erobert habt, könnt ihr einem glatt leidtun«, entgegnete Ooti und erntete noch größeres Gelächter als der Captain.
    Zum knusprig im Küppersbusch gebackenen Fisch gab es die unvermeidlichen Kartoffeln, Mischgemüse und eine köstliche helle Soße aus Mehl und Schwarzmarktbutter, zum Nachtisch stand ein Streuselkuchen bereit, dazu echter Kaffee. Auf dem Tisch blühte, unterstützt von Wollanks bunter Decke, ein Strauß Osterglocken, die ein kleines Mädchen neuerdings an der Ecke zur Tauschzentrale verkaufte. Durchs Fenster schien die Sonne.
    Ich konnte sehr gut verstehen, dass die kleinen Wranitzkys heulten.
    Hätte ich eine Tafel zur Hand gehabt, hätte ich an diesem Mittag eine Strichliste führen können für die Pluspunkte, die beide Seiten sammelten. Mem und Ooti machten Punkte für die Mahlzeit und ihr perfektes Englisch, Ooti zusätzlich für ihren alten britischen Pass, den sie zeigen konnte. Henry machte einen Punkt nach dem anderen, indem er den vollendeten Gastgeber gab und nebenher für mich übersetzte. Ned und Tom punkteten, wann immer sie »our friend Henry« sagten, alle drei Engländer punkteten mit ihren Witzen und indem sie geduldig unser Fotoalbum anschauten, um anerkennende Bemerkungen über »your delightful island« zu

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