Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
gerettet!«, sagte sie in einem Anflug von Trotz. »Kannst du sie von jetzt an bitte für uns investieren, Wim?«
    »Aber mit Vergnügen«, meinte dieser und nur mir fiel auf, dass Henry gekränkt vor sich starrte, weil Mem nicht daran gedacht hatte, dass man auch ihn hätte bitten könne n – und sei es nur, um ihm die Gelegenheit zu geben, abzulehnen.
    Der Schwarzmarkt war nicht der Ort, an dem jemand wie Henry zu Ehren kommen konnte. Henrys große Stunde schlug Anfang Mai, als die Tommys ihren lang angekündigten Besuch wahrmachten. An allem, was darauf folgte, gab ich ihm jedoch keine Schuld.
    Die kleinen Wranitzkys heulten, als der Duft gebratenen Fischs durchs Haus zog, und ihre durchdringende, dreistimmige Klage erinnerte vorübergehend daran, dass für eine Familie im Haus die Situation sich noch nicht verbessert hatte. Wir hatten Wim und den Schwarzmarkt, Bolle s – denen ich tunlichst vermied zu begegne n – hatten Beziehungen, die es ihnen ermöglichten, sich an konfiszierter Hamsterware zu bedienen. Wranitzkys mochten nicht mehr frieren, aber mehr zu essen hatten sie deswegen noch nicht.
    Die Wranitzky hatte sich mit einer Flüchtlingsfrau aus der Nachbarschaft zusammengetan, um abwechselnd auf die Kinder der jeweils anderen aufzupassen und hamstern fahren zu können, aber das nützte wenig, wenn die Bauern nur im Tausch etwas herausrückten. Auch sie wurden jetzt schärfer kontrolliert: Meldeten sie ihre Erträge korrekt an, hatten sie mehr Obstbäume und Ackerfläche als angegeben, mästeten sie gar heimlich ein zusätzliches Schwein? Für Schwarzschlachtungen wurden empfindliche Strafen verhängt, im schlimmsten Fall konnte ein Bauer sogar seinen Hof verlieren.
    In den Läden blieben die Regale lee r – obwohl die Fabriken produzierten. Mehr und mehr Arbeiter waren dazu übergegangen, sich Teile ihres Lohns in sogenannten Deputaten auszahlen zu lassen, Waren, die in ihrer Fabrik hergestellt wurden und die sie nun privat verhökerten. Dadurch kamen dringend benötigte Güter gar nicht erst im Handel an, und auch das Geld verlor an Wert. Tauchte man mit einem glücklich ergatterten Bezugsschein in einem Laden auf, konnte es jetzt passieren, dass man zusätzlich zu einer beträchtlichen Summe Reichsmark auch noch ein Pfund Butter oder Kaffee drauflegen musste. Für die fünfundvierzig Mark, die Mem jede Woche beim Steineklopfen verdiente, und die kleine Rente, die die Wranitzky von ihrem gefallenen Mann erhielt, konnte man von Woche zu Woche weniger kaufen.
    Es war die Zeit der Suppenküchen. Jeden Mittag brachten die Wranitzky und ihre Nachbarin die Kinder zur »Quäkerspeisung« und holten sie danach wieder ab.
    »Wie schön für Sie! Um die Kleinen brauchen Sie sich jetzt keine Sorge mehr zu machen«, sagte Mem.
    Die Wranitzky antwortete nicht. Wenn sie nach Hause kam, hatte sie manchmal Kartoffelschalen in ihrer Tasche, die sie röstete und knabberte, oder sie sammelte zwischen den Trümmern Löwenzahn, Brennnesseln und Huflattich, aus denen man Salat zubereiten konnte. Wie ihr erging es vielen, die nichts von Wert besaßen, die aufgrund von Krankheit, Alter oder kleinen Kindern nicht auf Arbeitssuche gehen konnten und keine Möglichkeit zu Tauschgeschäften hatten. Sie lebten von der Lebensmittelkarte für »Normalverbraucher«, mal tausend, mal noch weniger Kalorien, und verhungerten vor aller Augen.
    Oder besser: Sie wären vor aller Augen verhungert, wenn denn jemand hingesehen hätte.
    Die kleinen Wranitzkys heulten, während Mem und Ooti den Tommy-Fisch brieten, und sie heulten immer noch, als Sergeant Edward McElroy und Sergeant Thomas Burrows, uns bereits bestens bekannt als Ned und Tom, pünktlich mittags um eins vor der Tür standen, ihren Vorgesetzten Captain Sullavan im Schlepp.
    In den nächsten Minuten wuchs in mir eine Ahnung, warum das Wort Small Talk aus dem Englischen stammt. Die drei Tommys waren Meister des angeregten Gesprächs über nichts Bestimmtes, vom Wetter über das Format deutscher Fenster bis hin zum Duft verschiedener Fische; ihr höfliches, belangloses Plaudern, gespickt mit »Oohs«, »Ahas« und »Indeeds«, hatte den Effekt eines gegenseitigen Zuwedelns mit weißen Fahnen. Mems und Ootis angespannte Gesichtszüge glätteten sich innerhalb kürzester Zeit und auch ich musste feststellen, dass es nicht automatisch Magenschmerzen verursachte, sich vis-à-vis mit einem Tommy in der eigenen Wohnung wiederzufinden.
    Zu unserer Überraschung übernahmen Ned und Tom die

Weitere Kostenlose Bücher