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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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meiner Frage bewusst wurde. Wenn Captain Sullavan Nora zur Frau nahm, würde meine Mutter für sie putzen müsse n …! Dass ich daran nicht gedacht hatte!
    Die Orthopädische Versorgungsstelle befand sich in einem anderen Stadtteil; Mem, die den Nachmittag freibekommen hatte, und ich fuhren mit der U-Bahn hin. Noch nie hatte ich mit meinem eingenähten Bein außerhalb des Hauses zu laufen versucht und stellte entsetzt fest, dass ich bei schwungvolleren Bewegungen, wie sie auf der Straße erforderlich waren, schlenkerte wie eine durchgedrehte Marionette. Es kam selten vor, dass Passanten auf andere achteten, jeder hatte mit sich selbst genug zu tun, aber entgegenkommende Leute glotzten mich an. Ich war froh, als wir endlich in der Bahn saßen.
    In der Versorgungsstelle war man sicher vor Blicken. Hier fiel jeder auf, der noch komplett war, selbst einigen Ärzten und Schwestern fehlte ein Arm oder Bein, und trotzdem musste ich erst einmal tief Luft holen, bevor wir das Wartezimmer betraten. Man wusste nie, was einen hier erwartete. An die geballte Nähe von Doppelt-, Drei- oder gar Vierfachamputierten konnte man sich gewöhnen, während man wartete; die Blinden mit ihren teils grauenvollen Gesichtsverstümmelungen waren auch diesmal ein Schock.
    Im Zimmer stand die Luf t – schwer zu sagen, ob es an der Menge der Menschen auf engem Raum oder an der knisternden Atmosphäre der Gereiztheit lag. Die meisten »Beschädigten« mussten nicht nur länger auf ihre Körperersatzstücke warten als während des Krieges, sondern hatten, wenn sie hier saßen, in der Regel bereits eine Odyssee von Hott nach Hü hinter sich wegen ihrer Renten, der Zuteilung einer Wohnung oder der Familienzusammenführung in einer anderen Zone.
    Ein falsches Wort seitens einer Schwester oder eines Arztes konnte reichen, um einen mittleren Vulkan auszulösen. Bei unserem ersten und bislang letzten Besuch hatten wir den hysterischen Anfall eines Mannes mit angesehen, der keine Prothese erhielt, weil er als belastet eingestuft worden war, diesmal durften wir einen Gelähmten erleben, der gegen seinen Willen aus dem Lazarett entlassen werden sollte, obwohl er nicht wusste wohin.
    »Die sind doch alle tot, alle tot!«, schrie er über den Gang und wir konnten ihn noch brüllen hören, lange nachdem die Tür des Sprechzimmers hinter seinem Rollstuhl zugefallen war. Dazwischen mischte sich die lautstarke Diskussion einer Schwester mit einem »Ohnhänder«, der nicht einsehen mochte, dass auch er seinen Antrag auf medizinische Hilfsmittel schriftlich einzureichen hatte.
    »Wir haben für euch gekämpft und jetzt lasst ihr uns betteln!«, regte sich der Mann auf.
    »Für mich hätte überhaupt niemand zu kämpfen brauchen«, versetzte die Schwester, worauf der Mann nicht nur vollends die Fassung verlor und brüllte, sie solle sich schämen, sondern das komplette Wartezimmer in Aufruhr geriet, um sich mit dem Ohnhänder zu solidarisieren.
    »Eine wie Sie dürfte hier gar nicht arbeiten!«, schrie jemand.
    »Glauben Sie, ich hab mir das hier ausgesucht?«, schrie die Schwester zurück.
    Schließlich gingen wir hinaus auf den Gang und warteten unter einem Plakat, das uns einbläute: Frag nicht, was du nicht mehr kanns t – tu alles andere!
    Zwei weitere Stunden später wurden wir aufgerufen und ins Sprechzimmer vorgelassen, dessen Wände mit bunten Bildern aller Arten von Prothesen geschmückt waren, als ob man eingeladen werden sollte, sich eine auszusuchen. Ein fast lebensgroßes Plakat zeigte die Vielzahl der möglichen Amputationsschnitte, daneben schlackerte ein Skelett zu weiteren Demonstrationszwecken.
    Der Arzt war ein anderer als im Herbst. Anstelle der linken Hand trug er einen Greifhaken, und als er mein eingenähtes Bein sah, lachte er so herzhaft, als wäre dessen Anblick der erste Lichtblick in dem ganzen Elend, das er Tag für Tag zu sehen bekam. Nachdem ich meine Hose ausgezogen hatte, untersuchte er erst einmal diese, um sich anzusehen, wo genau ich die drei Schlaufen angebracht hatte, die mein Körperersatzstück mithilfe seiner eigenen Schnallen und einer Kordel am Platz hielten.
    »Meine Tochter hat ihren ersten Freund«, erklärte Mem.
    Ich hob den Kopf und starrte sie entgeistert an.
    »Sie möchte nicht, dass er gleich davon erfährt«, sagte Mem ungerührt.
    Meine gesamte Körperwärme schoss nach oben und sammelte sich in den Wangen.
    »Dass sie auf Krücken läuft, ist ja unübersehbar, aber dieser Junge scheint noch nicht begriffen

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