Unterland
in sämtliche Zehenspitzen.
»Nicht schlecht«, sagte ich, als ich Henry sein Heft zurückgab, und die Bemerkung reichte, um sein besorgtes Gesicht in ein halb erleichtertes, halb geschmeicheltes Grinsen ausbrechen zu lassen, wie man es bei ihm selten zu sehen bekam. »Wann schickst du es James?«
»Wenn er wieder in Hamburg ist, gebe ich es ihm persönlich.«
»Ja, das ist besser! Es wäre schlimm, wenn das Heft verloren ginge.«
Henry nickte und grinste noch ein wenig mehr.
»Und außerdem«, bestimmte ich, »müssen wir endlich wieder anfangen zu suchen.«
»Das finde ich auch.«
»Nicht dass du denkst, ich hätte ihn vergessen! Es wird Zeit, dass er für all das bezahlt.«
»Wir finden ihn«, sagte Henry so kalt und tonlos, dass mir ein Schauer der Zufriedenheit über den Rücken rieselte, weil ich spürte, dass es kein leeres Versprechen war und dass mein Bruder bei jedem einzelnen Wort, das er in sein Heft schrieb, an den Verräter dachte.
Anfang Mai fuhr ein aufgeregter Henry durch die halbe Stadt, um James Krüss zu treffen und ihm seine Geschichten zu überreichen. Er kehrte mit einem leeren Schreibheft, einer Adressenliste und seinem ersten Auftrag zurück: Helgoländer Familien in Hamburg zu besuchen und einige ihrer Erlebnisse für die künftige Zeitung aufzuschreiben!
Es war zugleich Mems erster Arbeitstag als Haushälterin. Captain Sullavan wohnte mit zwei anderen Offizieren und deren Ehefrauen in einer Villa hinter dem Tommy-Zaun und Mems Job bestand darin, für die fünf Personen zu waschen, zu kochen und zu putzen. Von dem, was Mem kochte, durfte auch sie in ihrer Küche essen, doch sie durfte leider keine Reste mit nach Hause nehmen.
»Einer der anderen Offiziere, Captain Musgrave, ist sehr strikt«, sagte sie traurig und wir verstanden stillschweigend, dass Captain Sullavan uns das Essen selbstverständlich gegönnt hätte, gegenüber den Kameraden jedoch nicht als deutschfreundlich auffallen durfte.
Aber dass Mem die Mülltonne mit den Essensresten dicht an den Zaun rückte, schien niemand zu bemerken. Wenn man sich geschickt anstellte und die Tonne mehr als zur Hälfte gefüllt war (was Mem einzurichten wusste), konnte man mit dem Arm durch den Zaun greifen, die Papiertüte mit den Resten erwischen und vorsichtig Stück für Stück nach oben bugsieren. Henry hatte eine entsprechende Vorrichtung gebastelt; der Draht stammte von Wim, der schließlich auch etwas davon hatte.
Abend für Abend versammelten wir uns in freudiger Erwartung um die geschlossene Tüte, ganz so wie früher vor der Tür zum Weihnachtszimmer, und Mem verriet nicht, was sich darin befand, damit wir raten und die Bescherung noch etwas ausdehnen konnten. Der Sieger durfte die Tüte öffnen, bevor der Inhalt gewissenhaft durch vier Esser geteilt wurde. Meine Mutter verzichtete, sie hatte ihre Mahlzeit ja schon gehabt.
Weißbrot, das wir erstmals aßen, enttäuscht e – es schmeckte nach nichts. Baked Beans mochte ich nach kurzer Eingewöhnung, Erbsen sowieso, auch Hühnchen gab es oft, das sich sauber von den Knochen kratzen und unter Reis- oder Gemüsereste mischen ließ. Beide Offiziersfrauen aßen zu unserem Entzücken keine Geflügelhaut, die man zusammen mit Kartoffeln oder deren Schalen rösten und knabbern konnte. Kein Stück Fisch war zu klein, um nicht noch eine Suppe daraus zu machen.
Man wurde zu viert nicht immer satt, aber zusammen mit Kartoffeln oder einer Schnitte Brot ließen sich die Reste durchaus zu etwas strecken, was man als Mahlzeit bezeichnen konnte. Die Nächte, in denen wir schlaflos vor Hunger wach lagen, hatten ein Ende, die Mattigkeit wich; ich konnte regelrecht spüren, wie meine inneren Organe munter wurden und sich wieder ihrer Aufgaben besannen.
»Hat Captain Sullavan eigentlich keine Frau?«, fragte ich eines Abends vor dem Zubettgehen.
»Keine Ahnung«, antwortete Mem kurz angebunden.
»Wenn er eine hätte, wäre sie hier, meinst du nicht?«
»Ich werde den Teufel tun und ihn fragen«, erwiderte meine Mutter. »Wieso«, setzte sie argwöhnisch hinzu, »interessiert dich das überhaupt?«
»Nora sucht doch wieder einen Mann!«, entgegnete ich.
In meiner Mutter ging urplötzlich eine merkwürdige Veränderung vor. Zornesröte schoss in Sekundenschnelle ihren Hals herauf und sprang in beide Wangen, ihre Stirn zerfurchte, die Augen wurden schmal. »Na, die soll mal schön woanders suchen!«, platzte sie heraus.
Ich zog den Kopf ein, als mir die Dummheit und Unüberlegtheit
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