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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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brauchten unsere Bücher nur zu Leni in den Garten mitzubringen. Es waren, hatten die Hamburger in unserer Klasse gleich entdeckt, genau dieselben speckigen alten Bücher wie vorher, nur etliche Passagen waren von Hand geschwärzt und unkenntlich gemacht. Selbst in den Mathebüchern gab es geschwärzte Aufgaben, die verbotene Worte wie Hitlerjunge enthielten oder die Namen früherer deutscher Städte im Osten.
    Ob wenigstens auf dem Schwarzmarkt jemand zur Kenntnis nehmen würde, dass ich wieder da war? Ich erwartete keine große Begrüßung, aber das eine oder andere Hallo wäre schön gewesen.
    Es kam anders. »Hallo, auch wieder da?«, ging es los, kaum dass wir in die Bahnhofstraße eingebogen waren, aber ein Händler nach dem anderen erkundigte sich nicht, ob ich, sondern ob Wim krank, erwischt oder geschäftlich unterwegs gewesen sei, kurz: wo er denn die ganze letzte Woche gesteckt habe!
    »Ich war auf dem Schwarzmarkt in St . Pauli«, sagte Wim zu mir. »Der ist ein paar Nummern größer. Man muss seine Netze auswerfen, wo man kann.«
    »St. Pauli«, wiederholte ich. »Aber davon hast du ja kein Wort erwähnt!«
    »Komisch, das muss ich wohl vergessen haben«, erwiderte Wim mit dem schiefsten Lächeln, das ich je an ihm gesehen hatte.
    Manchmal glaube ich, ich bin ein großer Feigling. Ich merke schnell, wenn jemand lügt, aber anstatt es ihm auf den Kopf zuzusagen, antworte ich beschämt: »Ach so.« Dabei ist mir vollkommen klar, dass die Lügerei nicht dadurch aufhört, dass man schweigt. Besonders nicht dadurch! Doch ich sage nichts. Ich ging neben Wim her und dachte: St . Pauli! Das kannst du deiner Großmutter erzählen!
    Böse war ich ihm aber nicht. Wie hätte ich jemandem böse sein können, der mit mir gekommen war, anstatt sich weiter von Larsens anhimmeln zu lassen?
    Zu Herrn Goldstein konnte man, wenn man ihm nicht zufällig auf der Straße begegnete, nur mit Anmeldung vordringen. Wir fragten Gustav, der uns anwies, vor der Baracke zu warten. Er wolle sehen, ob sein Boss Zeit für uns habe.
    Fünf Minuten später war er wieder da und teilte uns mit, Herr Goldstein sei krank.
    »Was hat er denn?«, fragte ich überrascht.
    Gustav musterte mich von oben bis unten, dann antwortete er: »Hängt mit dem Lager zusammen. An manchen Tagen kommt er gar nicht erst raus. Wenn ich an seine Kellertür klopfe, sagt er: ›Heute nicht.‹ Das ist alles. Und der Kelle r …«
    Er brach ab. »Was ist mit dem Keller?«, fragte ich unbehaglich.
    »Da bollern zwei Öfen rund um die Uhr. Eine Affenhitze, sag ich euch. Keine Ahnung, wie der das aushält! Sagt, er habe für sein Leben genug gefroren.«
    »Wir wollten ihm endlich seine Stange Amis zurückgeben«, erwiderte Wim und klopfte auf den Beutel, den er über der Schulter trug.
    »Morgen oder übermorgen ist er wieder da. Ein, zwei Tage, länger dauert es nie.«
    »Du kannst ihm ja schon mal Bescheid sagen«, schlug ich vor. »Und gute Besserung.«
    Gustav schüttelte den Kopf und grinste, aber zum ersten Mal, seit wir mit ihm zu tun hatten, sagte er »Tschüss«, als wir auseinandergingen.
    Wir schlenderten die Straße entlang, um die Zigaretten loszuwerden; etwas anderes hatten wir an diesem Tag nicht dabei. Es gab Gurken im Glas, also kauften wir zehn für die Stange, weil Wim immer noch nach Schraubgefäßen Ausschau hielt. Der Verkäufer bot an, uns den Einkauf direkt nach Hause zu bringen.
    »Hör mal«, sagte Wim, »kannst du allein auf den Mann warten? Ich will noch zu Lou.«
    Ich nickte und er gab mir den Beutel mit der Stange Zigaretten, die erst bei Ablieferung der Gurken den Besitzer wechseln würden. »Sag Nora einen schönen Gruß«, trug ich ihm auf, denn er hatte behauptet, dass die Gefangenen, die zur Straße hin lagen, ihren Angehörigen Botschaften zuriefen. Es sei ein Heidenspektakel, jeder versuche jeden zu übertönen, die Anwohner beschwerten sich schon.
    »Sie hat jetzt genau Halbzeit!«, rief ich Wim nach und der strahlte, als habe er daran noch gar nicht gedacht. Er winkte, ging die Bahnhofstraße entlan g – und bog nach links ab in eine Straße, die überall hinführte, bloß nicht zum Gefängnis.
    Denkt er, ich bin blöd?, dachte ich, nun doch entrüstet.
    Kurzerhand streifte ich mir den Beutel über den Kopf, warf ihn schräg nach hinten auf den Rücken und krückte hinter Wim her, so schnell ich konnte. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um, anscheinend kam er überhaupt nicht auf die Idee, ich könnte ihm folgen. Hätte er die

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