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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Abkürzung quer über die Trampelpfade auf und zwischen den Trümmerhaufen genommen, hätte ich ihn trotzdem aus den Augen verloren, aber er blieb auf der Straße, und als er zielstrebig einen bestimmten Platz überquerte, ahnte ich bereits, wohin er wollte.
    Den alten fünfstöckigen Hochbunker, der von Bränden geschwärzt, aber unversehrt aus den Ruinen aufragte, hatte man eigentlich sprengen wollen, dann allerdings erkannt, dass jede verfügbare Unterkunft für die vielen Obdachlosen der Stadt gebraucht wurde. In den fensterlosen Luftschutzräumen waren über tausend Männer untergebracht: Ausgebombte, Heimkehrer ohne Familie, Flüchtlinge, die allein in Hamburg gestrandet waren. Mem und Ooti hatten mir dringlichst eingeschärft, mich von dort fernzuhalte n – was nicht nötig gewesen wäre, denn der immer noch bedrohlich wirkende Bunker war der letzte Ort der Welt, den ich ohne Not betreten hätte.
    Die beiden Fliegeralarme, die ich in ihm hatte aussitzen müssen, reichten für ein ganzes Leben. Auf Helgoland hatte jede Familie ihren festen Bunkerplatz gehabt und jedes Kind gewusst, wie es von den verschiedenen Stolleneingängen aus dorthin gelangte; jeder Alarm war ruhig und gesittet vonstattengegangen. Der Hochbunker, in den über einen einzigen Eingang mehr als zehntausend Personen gestopft wurden, war ein Schock, wie ihn ein Bombenangriff kaum hätte übertreffen können. Schon im Aufgang herrschte ein unvorstellbares Geschubse und Geschrei, weil alle unten bleiben und niemand freiwillig nach oben in den vierten oder fünften Stock wollte. Störrische Frauen blockierten die Treppe und kreischten, weiter gingen sie nicht, ihre Söhne seien schon gefallen, der Schwall einströmender Menschen stockte und draußen vor dem Bunker wurden andere hysterisch, weil sie fürchteten, nicht mehr eingelassen zu werden. Luftschutzwarte brüllten Kommandos, Polizisten führten Störer ab, SS-Kommandos packten Männer und ältere Jungen, um sie an die Front oder zum Volkssturm zu schleppen. Man musste sich an fremden Rücken festkrallen, um nicht zu Fall gebracht und womöglich totgetrampelt zu werden.
    Als wir uns endlich aus der qualvollen Enge auf einen Platz im vierten Stock gerettet hatten, musste ich kotzen, dabei gab es nicht einmal einen Angriff. Allein den Bunker zu sehen, erfüllte mich mit dieser albtraumhaften Erinnerung, und als Wim darin verschwan d – vorbei an einer Schar abgerissener Gestalten, die im Eingang lungert e –, war mir vollkommen klar, dass ich ihm nicht weiter folgen würde.
    Mich umzudrehen und wieder wegzugehen, brachte ich allerdings auch nicht fertig. Dass im Hochbunker das Verbrechen blühte , war allgemein bekannt; man hörte von Schlägereien und Totschlag und ich traute Wim durchaus zu, dass er vor lauter ungebremstem Geschäftssinn in etwas Gefährliches, nicht mehr Kontrollierbares hineingeraten war. Ratlos und furchtsam blieb ich schräg gegenüber stehen, fröstelte im Schatten, den das Ungetüm über die Straße warf, und starrte beschwörend auf den Eingang.
    Wim, mach keinen Quatsch, komm wieder raus!
    »Was machst du hier?«, fragte plötzlich eine scharfe Stimme.
    Ich tat vor Entsetzen einen Sprung.
    »Kannst die Leute nicht in Ruhe lassen, stimmt’s?«, sagte Sandra voller Wut.
    Ich hätte sie fast nicht erkannt. Ihre Augen waren schwarz bemalt, die Lippen leuchteten so dunkelrot, als habe sie jemand blutig geschlagen. Ihr Haar musste Sandra mit einer Lockenschere bearbeitet haben; jetzt, am Nachmittag, hatte sich die eine Seite wieder geglättet, auf der anderen struppten noch ein paar fusselige Wellen. Mit der linken Hand hielt sie ihren Mantel zu, mit der rechten eine Zigarette.
    Hätte mein eigenes Haar nicht ohnehin zu Berge gestanden, wäre es spätestens in diesem Moment so weit gewesen. Ich wies mit dem Finger auf den Bunkereingang und hauchte eingeschüchtert: »Wim ist da drin.«
    »Na und?« Ich erkannte nicht einmal Sandras sonst so leise, weiche Stimme. »Wim kann sein, wo er will, und ich auch, dass das mal klar ist«, fuhr sie mich an.
    »Klar«, stimmte ich zu und merkte zu meinem Entsetzen, wie mir Tränen in die Augen schosse n – vor Schreck, aber auch weil ich Sandra von Anfang an gemocht hatte und in diesem Moment merkte, dass es immer noch so war. Selbst nach der Sache mit der Hamsterei. Selbst jetzt, als sie hier stand und mich anfunkelte.
    Als ich die Tränen weggeblinzelt hatte, sah ich, dass Sandras Augen ebenfalls feucht waren. »Schau nicht

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