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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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so«, sagte sie leise.
    »Gehst du da rein?«, fragte ich mit einem scheuen Nicken in Richtung Bunker.
    »Ich nicht«, sagte sie nach kurzem Zögern und ich verstand. Auch Sandra stand hier, um auf jemanden aufzupassen.
    »Ich hätte lieber einen Tommy-Freund, wie deine Mutter«, sagte sie und zog an ihrer Zigarette. »Aber so läuft es nun mal, kleine Alice. Manche haben weniger Glück. Manche müssen einfach länger warten, bis sie jemandem auffallen.«
    »Schon klar«, murmelte ich und starrte auf den Bunkereingang, bis mir die Augen flimmerten, aber weder Wim noch Brigitte kamen heraus.
    »Dein Freund Wim ist nicht zum ersten Mal hier«, sagte Sandra, als sie ihre Zigarette fertig geraucht hatte. »Er trifft jemanden, den er von früher kennt. Älterer Herr, ganz ordentlich. Um den brauchst du dir keine Sorgen zu machen . – Alice?«
    Ich sah sie fragend an.
    »Ich sage dir das, damit du jetzt nach Hause gehst«, fügte Sandra hinzu und es klang bittend.
    Ich nickte. Ich versuchte sie anzulächeln, während ich ging. In meinem Rücken hörte ich sie noch etwas sagen, es klang wie: »Danke, dass du uns neulich nicht verraten hast.«
    An der Straßenecke vergewisserte ich mich, dass sie mir nicht nachblickte, huschte in einen Hauseingang und lehnte mich gegen die kühle Mauer. Es fiel mir schwer zu atmen, etwas hatte sich um mein Herz gelegt und drückte zu.
    Wer schlau ist, hört einfach auf, mit Leuten zu reden. Sieht weg, geht weiter, weiß von nichts. Es gibt immer eine Blickrichtung, in der gerade nichts geschieht.
    Ich gebe zu: Manchmal beneide ich Leute, denen das gelingt.
    Und doch blieb ich wie angewurzelt stehen und guckte. Sah Sandra von hinten, wie sie auf ihre Schwester wartete und ihren Mantel zuhielt. Stellte mir Wim vor in diesem dunklen, stinkenden Gebäude, wie er im Halbdunkeln mit jemandem auf dessen Pritsche saß. Jemand, den er von früher kennt, ein älterer Herr, ganz ordentlich.
    War erleichtert, als sie zusammen herauskamen ins Sonnenlicht, Wim mit den Händen in den Hosentaschen. Er kickte ein Steinchen vor sich her, er lachte. Der Mann sah schmal und blass aus, aber gut gelaunt. Trug eine Brille.
    Ich dachte: Glück gehabt, es ist alles in Ordnung.

11

    Ein beliebiges Inselfotoalbum zu öffnen, birgt normalerweise wenig Überraschung für den Helgoländer. Man erkennt jeden Schauplatz, man erkennt Gesichter und Jahreszeiten; wenn am Tag der Aufnahme die Sonne schien, erkennt man an den Schatten sogar, um wie viel Uhr das Bild aufgenommen wurde. Henry saß an vielen Tischen in diesem Sommer und blickte in ein Inselfotoalbum nach dem anderen. Sein zweites Schreibheft, das ihm James gegeben hatte, füllte sich. Es gab noch immer keine Genehmigung für die Zeitung, aber es gab viele Geschichten und unsere ehemaligen Nachbarn warteten nur darauf, sie zu erzählen.
    Oft las Henry uns kurze Abschnitte vor, wenn er nach Hause kam. Wim langweilte das und er verabschiedete sich bald in sein Zimmer, um Radio zu hören oder an seinen Öfen zu basteln, aber Mem, Ooti und ich konnten gar nicht genug von diesen Geschichten bekommen. Besonders liebte ich die Episoden, die sich vor dem Krieg abspielten. Ich selbst war ja leider um den Spaß betrogen worden, mit anderen Kindern am Fähranleger zu stehen, einen kleinen Bauchladen vorgebunden, und den Touristen selbst gebastelte Muschelketten, Bernstein und getrocknete Seesterne feilzubieten. Ich hatte die Überreste hölzerner Badekabinen, mit denen vornehme Herrschaften vom Strand diskret ins Wasser gerollt worden waren, zwar auf der Düne vergammeln sehen, aber niemals in Aktion erlebt. Auch an Kurkonzerte auf der Promenade konnte ich mich kaum erinnern. Der verdammte Krieg!
    Aber wir Inselbewohner wissen um das grundsätzliche Problem unserer Fotoalben. Dem Ehepaar Minna und Henner Friedrich kann unmöglich bewusst gewesen sein, dass sie zwischen die Aufnahmen von Familienangehörigen an der Seebrücke, auf dem Falm und am Leuchtturm ein Bild mit der Sprengkraft einer Luftmine geklebt hatten. Für sie war es nur das Foto der unglücklichen Marinehelfer aus Elmshorn mit ein paar Offizieren an der Seite; ein paar Offizieren un d – ach ! – da war ja auch dieser nervöse Funker, wie hieß er gleich, Minna?
    Vom Besuch bei Friedrichs kehrte Henry mit einem Namen zurück. Es war der Name des Mannes, nach dem wir seit über einem Jahr Ausschau hielten. Doch Henry sagte mir den Namen nicht, er schrieb ihn auf das Bild, das Leni nach unseren Angaben

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