Unterland
fiel ihr plötzlich noch etwas ein. »Wo kommt der überhaupt her?«, fragte sie argwöhnisch.
»Aussig«, antwortete Ooti. »Sudetenland.«
»Sudetendeutsche, oje. Die waren doch alle Nazis!«
An den knallroten Ohren, die Wim daraufhin bekam, erkannte ich, dass er ganz genau zugehört hatte, und schämte mich so sehr für unsere Helgoländer Freunde, dass ich beinahe anfing zu hoffen, die Anwohner würden wieder aus dem Fenster brüllen. Brüllten die Anwohner aus dem Fenster, hielten unten nämlich alle zusammen. Die Leute aus dem Haus, das an unseren Garten grenzte, brüllten im Übrigen nicht nur, sie warfen aus den schmalen rückwärtigen Fenstern, hinter denen sich ihre Küchen befanden, auch Abfälle heraus, die dank seiner bevorzugten Lage leider ausgerechnet auf unserem Grundstück landeten.
»Danke für den Kompost!«, rief Ooti zur Wand hinauf, wenn sie am Garten ankam, und räumte weg, was seit dem Vortag angefallen war. Selbstredend waren nicht nur Küchenabfälle dabei. Die Mauerseite unseres Gartens mochten wir gar nicht bepflanzen angesichts dessen, was Ooti morgens hier fand.
Mussten die Hausbewohner nicht froh sein über den Blick, der sich ihnen bot, wenn sie aus dem Fenster schauten? Es war der zweite Tag nach dem Ende meines »Hausarrests« und ich war überrascht, wie weit die Arbeit in meiner Abwesenheit vorangeschritten war. Der Schutt war fort, der Boden gelockert und geharkt, überall entstanden kleine Parzellen, auf denen die Besitzer eifrig harkten und hackten. In wenigen Wochen würde es hier blühen! Als wir ankamen, war nichts da gewesen außer einem großen, hässlichen Schuttberg.
»Das war der Fußballplatz unserer Kinder!«
Damit hatte es angefangen, erzählte Ooti.
»Der Platz gehört schon immer zu den Häusern! Der hätte uns zugestanden!«
Ich war nicht dabei gewesen, aber ich konnte mir gut vorstellen, wie Ooti sich aufrichtete und höflich erwiderte: »Es tut mir leid, aber wir müssen nehmen, was uns zugewiesen wurde.«
»Ihr habt hier nichts zu suchen! Schert euch nach Hause!«
»Wenn wir dürfte n … jederzeit!«
»Flüchtlinge! Dreckspack! Haut doch ab!«
Ooti hielt große Stücke auf Larsens, denn die Hexenfamilie war ihr gleich beigesprungen und ließ sich nichts gefallen. »Tut mal nicht so!«, schrie Frau Larsen. »Wie sah’s denn hier aus? Das hättet ihr längst selber machen können! Aber jetzt aus dem Fenster hängen und maulen!«
Sie war zu Ooti hinübergeeilt, einen Spaten in der Hand, und als weitere Fenster aufgingen und die Anwohner keine Ruhe gaben, hatte sie kurzerhand ein Häufchen Dreck aufgeschippt und gegen das Haus geschleudert.
Konnte ich verstehen. Aber seitdem waren wir wieder im Krieg.
Während Lenis Mutter, die ich von klein auf kannte, es innerhalb kürzester Zeit geschafft hatte, mich gegen sie aufzubringen, machte ich die verblüffende Entdeckung, dass es sich mit der lauten, kräftigen Frau Larsen genau umgekehrt verhielt. Außer dass sie die Mutter der drei Hexen war, fiel mir nicht nur nichts ein, was man gegen sie hätte vorbringen können, sondern ich hatte sogar den Verdacht, dass auch nichts mehr kommen würde.
Larsens waren Bauern, sie hatten in Pommern einen eigenen Hof besessen und man konnte sie, was das Anlegen eines Gemüsegartens betraf, so gut wie alles fragen. Frau Larsens innere Uhr weckte sie immer noch um vier Uhr morgens, um die Stallarbeit zu beginnen, und um fünf Uhr nachmittags hörte sie die Stimmen ihrer Kühe, die gemolken werden wollten. Sie hoffte, betete sogar, dass jemand da war, der sich darum kümmerte. Das hatte sie natürlich nicht mir erzählt, sondern Ooti.
Ooti hatte sie auch erzählt, wie sie bei der Flucht all ihre Tiere zurücklassen mussten: die Kühe, die Schweine, die Ziegen, Hühner und Katzen. Der Hund sei noch tagelang hinter und neben dem Wagen gelaufen, obwohl sie ihn nicht hatten füttern können, und dann über Nacht verschwunden; wahrscheinlich habe ihn jemand gefangen und aufgegessen. Die beiden halb verhungerten Pferde, die ihnen vermutlich das Leben gerettet hatten, mussten sie mitsamt dem Wagen in Gotenhafen stehen lassen, als es aufs Schiff ging.
Frau Larsen weinte um ihre Tiere, Ooti tupfte sich mit dem Ärmel die Augen, die Mädchen standen stumm und tränenlos dabei und drückten ihrer Mutter den Arm. Seitdem waren sie die besten Freunde. Es kam mir vor, als müsste viel mehr Zeit vergangen sein als nur die vier Wochen, die ich im Haus eingesperrt gewesen war. Mein
Weitere Kostenlose Bücher