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Unterland

Unterland

Titel: Unterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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gezeichnet hatte, und zeigte es mir. Er verabscheute diesen Mann so sehr, dass er nicht einmal dessen Namen in den Mund nehmen wollte.
    Ich musste schlucken, als ich das Bild sah. »Weißt du, was das jetzt ist?«, sagte ich zu Henry und gab mir die Antwort selbst: »Das ist ein Steckbrief.«
    Schweigend steckte mein Bruder die Zeichnung zurück zwischen seine Papiere. Steckbrief hin oder her, hieß das wohl, aber der Verräter war immer noch unsere Angelegenheit.
    Gustav gab zu, nicht sicher zu sein, ob Herr Goldstein auf sein Klopfen noch einmal geantwortet hatte. Er glaubte seine Stimme am Abend zuvor zwar gehört zu haben, aber ganz genau könne er es nicht sagen, obwohl er seitdem natürlich pausenlos darüber nachdächte.
    Vermutlich dachte Gustav nicht über Herrn Goldsteins Stimme nach, er fragte sich, ob er ihn hätte retten können, wenn er misstrauischer gewesen wäre. »Er kam öfter nicht aus dem Keller«, sagte er und zog nervös an seiner Zigarette. »Wie hätte ich das wissen sollen?«
    Der kleine Menschenauflauf vor der Baracke hatte sich längst verlaufen, als Wim und ich in der Bahnhofstraße erschienen, und wir waren die Einzigen, die um den niedergeschlagenen Gustav herumstanden. »Die Hyänen waren natürlich auch schon da«, sagte der Junge bitter.
    Ich wäre ihm lieber nicht in den Keller gefolgt, aber es erschien mir auch nicht passend abzulehnen, nachdem Gustav offenbar so viel daran lag. Uns voran ging er durch einen schmutzigen, schlecht beleuchteten Gang, an dem noch die Tafel mit den Luftschutzverordnungen hing. Ich hörte das Scharren unserer Schuhe und das »Tock« meiner Krücken, der Betonstaub kitzelte in meinem Hals und ich hätte gern gehustet, wagte es aber nicht aus Furcht, die rettende Starre zu lösen, die mich bei Gustavs Nachricht befallen hatte.
    Als Gustav an einer Tür am Ende des Gangs angekommen war, hob er automatisch die Hand, um zu klopfen; verlegen schüttelte er den Kopf, als ihm bewusst wurde, was er tat. Zögernd traten wir ein. Feuchte Wärme und abgestandene Luft schlugen uns entgegen. Wir standen in einem kleinen, von einem Oberlicht schwach erhellten Raum, in dessen Mitte ein Teppich lag. Auf dem Teppich stand ein Sofa, auf dem Sofa war immer noch der Abdruck von Herrn Goldstein zu erkennen. Erst in diesem Moment begriff ich, dass er wirklich nicht zurückkam.
    »Was hätte ich machen sollen?«, fragte Gustav und wies hilflos auf die leeren Regale hinter dem Sofa, den halb weggerissenen Vorhang, der links davon hing. »Ich dachte, ich sag erst mal oben Bescheid, dem Gebauer und dem Schmitz, die kannten ihn ja. Die Polente hätte doch gleich alles beschlagnahmt.«
    Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, was passiert war, zerfetztes Packpapier und aufgerissene Kartons lagen noch überall herum. Erst als Herr Goldsteins Lager restlos geplündert worden war, hatte jemand einen Krankenwagen gerufen. Es wäre, sagte Gustav bitter, sowieso zu spät gewesen.
    »Die Öfen haben sie rausgeschleppt«, klagte er. »Dabei hatte er mir schon einen versprochen für den nächsten Winter. Das Sofa holt sicher auch noch einer.«
    Er stopfte die Hände in die Hosentaschen, sah sich noch einmal um, dann sanken seine Schultern und er nickte zur Tür. »Kommt, hauen wir ab. Hat doch keinen Sinn mehr.«
    »Was ist hiermit?«, fragte Wim und wies auf einen niedrigen Tisch, der vor dem Sofa stand.
    »Nur ’ne Sperrholzkiste. Von mir aus nimm sie mit«, sagte Gustav mürrisch.
    »Nein, ich meine doch das hier!«
    Erst jetzt sah ich das kleine Sammelsurium persönlicher Habseligkeiten, die auf dem Tisch zurückgeblieben waren: Briefumschläge, Fotos, ein alter Schlüssel an einer Schnur. Wim sammelte sie ein und hielt sie Gustav hin, aber der winkte ab. »Ich wohne mit meinem Alten auf einem Boot, wir haben keinen Platz für Erinnerungen.«
    »Ich nehme sie«, sagte ich schnell und steckte alles ein. »Vielleicht kommt jemand aus seiner Familie zurück.«
    »Glaub ich nicht«, erwiderte Gustav.
    Wim raffte noch ein Bündel Packpapier und Kartonreste zusammen, das sich als Heizmaterial eignete, dann nickte Gustav noch einmal zur Tür, diesmal unmissverständlich. Wir gingen hinaus, und mit einem Stich ins Herz dachte ich an die Worte, die ich damals zu Herrn Goldstein gesagt hatte: Sie haben sich nicht einmal bedank t …
    »Willst du?«, fragte ich Gustav, als wir oben waren, und zog die Stange Zigaretten aus Wims Beutel, die wir Herrn Goldstein endlich hatten zurückgeben

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