Unterland
wollen.
Ganz kurz hielt Wim den Beutel fest, Verblüffung und Ärger malten sich auf sein Gesich t – was hatte Gustav mit unseren Schulden bei Herrn Goldstein zu tun? Dann sagte auch er: »Ja, nimm du sie doch!«, und Gustav steckte die Zigaretten schweigend ein.
»Stimmt das, du wohnst auf einem Boot?«, fragte ich.
»Ja. Genau deshalb hänge ich den ganzen Tag hier herum. Mein Alter ist mit dem Kahn unterwegs. Warum willst du das wissen?«
»Alice ist aus Helgoland«, kam Wim mir zuvor.
»Soll das ein Witz sein?« Gustav sah mich perplex an. »Da drüben fischt mein Alter die ganze Woche! Sie pennen in eurem alten U-Boot-Bunker.«
Wim wies lässig mit dem Kopf auf mich. »Es gibt ein paar Helgoländer, die würden auch gern mal wieder hin.«
»Zu riskant, Helgoländer dürfen sich da nicht sehen lassen. Wenn mein Alter anfängt, Helgoländer rüberzufahren, verliert er die Lizenz.«
»Ach, da lässt sich doch was machen. Für den richtigen Prei s …«
Gustav sah Wim an, als sei der nicht recht gescheit, und ließ uns einfach stehen. »Du siehst«, sagte Wim, »unmöglich ist es nicht.«
»Und was soll ich da?« Vor lauter Ärger fand ich meine Sprache wieder. »Mir angucken, wie kaputt alles ist? Wenn wir nicht aufräumen dürfen, hat es doch keinen Sinn.«
»Ich wollte nur helfen«, erwiderte Wim säuerlich.
»Der arme Herr Goldstein. Was ist da bloß passiert?«
»Bestimmt sein Herz. Spätfolgen.« Wim hob die Schultern. »Die Toten sind längst nicht alle gezählt, wenn du mich fragst.«
Zu Hause sah ich mir die Fotos an, die Herr Goldstein aufbewahrt hatte, und las die Anschrift auf den Briefumschlägen. Zwei waren von einer Sonia Wertheim aus Rheinbac h – vielleicht die dunkelhaarige junge Frau, die auf mehreren Bildern zu sehen war. Der andere Absender hieß Salomon Geiger und hatte, dem Datum seines letzten Briefes zufolge, 1942 in Duisburg gelebt.
»Ooti, gibt es noch eine Stadt, die Duisburg heißt?«
»Natürlich, das ist im Ruhrgebiet. Unsere Kohlen kommen von dort.«
»Wie findet man eigentlich vermisste Juden?«, fragte ich zögernd. »Übers Rote Kreuz, wie alle anderen, ode r …?«
»Was hast du denn da?«, wollte Ooti wissen und ich zeigte es ihr. »Herr Goldstein ist tot«, erklärte ich. »Aber vielleicht lebt noch jemand, der die Sachen haben möchte.«
Ich hatte mich in meiner Großmutter nicht getäuscht: Sie verstand sofort. »Schreib erst mal an die beiden Adressen«, meinte sie. »Dann sehen wir weiter.«
»Hilfst du mir? Du kennst dich doch aus!«
»Mit dem Suchdienst? Das kann man wohl sagen«, erwiderte sie traurig. »Natürlich helfe ich dir. Aber reib deiner Mutter lieber nicht unter die Nase, dass wir Sachen von toten Juden im Haus haben.«
»Ist das gefährlich?« Ich erschrak.
»Nein, es sind ja nur Fotos und Brief e – oder? Alice, ich will nicht hoffen, dass du noch irgendetwas anderes von dem Mann mitgenommen has t …«
Ich schüttelte heftig den Kopf.
»Eine Menge Leute haben sich an dem Eigentum verschleppter Juden bereichert«, erklärte Ooti, »da wollen wir auf keinen Fall dazugehören.«
»Ich habe sonst nichts mitgenommen. Ganz ehrlich ! – Ooti?«
Ich zögerte kurz, dann erzählte ich es doch: »Der Vater des Jungen, der für Herrn Goldstein gearbeitet hat, ist Fischer vor Helgoland.«
»So?« Dies schien keine besonders erfreuliche Mitteilung zu sein, denn Ooti zog sich zusammen, als wäre sie mit etwas Kaltem in Berührung gekommen. »Das muss dann wohl jemand aus Finkenwerder sein. Die sollen sich bei uns schon fürstlich bedient haben.«
»Aber wie kann das sein, dass andere hinüberdürfen und wir nicht?«
»Die Militärregierung will uns jegliche Hoffnung nehmen«, sagte Ooti müde. »Wir sollen nie wieder einen Fuß auf die Insel setzen, damit wir gar nicht erst auf den Gedanken kommen, Ansprüche zu erheben. Abgesehen davon haben die meisten unserer Fischer ja nicht einmal mehr ein Boot. Die Tommys haben bei dem Angriff ganze Arbeit geleistet.«
»Nie wieder einen Fuß auf die Inse l …?«, wiederholte ich schockiert.
»Wir sollen uns hier integrieren, sagen sie. Wir sollen unser Zuhause vergessen.«
Dies war eine so absurde Vorstellung, dass ich beinahe lachen musste. »Die haben wohl zu viel Weißbrot gegessen!«
»Das wird’s sein«, erwiderte Ooti und zwang sich zu einem Lächeln.
Die Fotos, Briefe und den Schlüssel von Herrn Goldstein gab ich Wim, der sie zwischen seinen zahlreichen Kartons versteckte. Ich opferte
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