Unterm Kirschbaum
Buddhismus: »Aum mani padme hum.« ›A‹ bezeichnete die Wachsamkeit des Menschen, ›u‹ die Traumwelt und ›m‹ den tiefen Schlaf. Aum war die mystische Silbe, die vom Atom bis zum Universum alles erfasste. Angela wippte mit dem Oberkörper leicht hin und her. Höre dein eigenes Atmen, höre den Klang deines Atems, höre, wie der Klang deines Atmens zu einem Mantra wird, spüre, wie sich das Mantra mit deinem Körper vereint, fühle die Energie, die es produziert, lasse es fließen, höre die innere Energie deines Körpers …
Sie war nach Indien gekommen, um sich einen Guru zu suchen. Bina guru gnana nahi! Ohne Guru gibt es kein Wissen. Noch aber hatte sie keinen gefunden, noch musste sie selber lesen, was bedeutsam war.
Woher hat diese Schöpfung sich erhoben, / ist sie geschaffen oder unerschaffen, der eine nur, / der auf sie blickt aus höchster Himmelssphäre, er weiß es, oder er weiß es nicht?
Das war aus der Rigveda, aber alles, was sie bisher wusste, war nur Stückwerk, es fehlte das Band, das alles einigte. Aber es war gar nicht so einfach, einen guten Guru oder Ashram zu finden. Die wahren Meister hatten es nicht nötig, nach Kunden Ausschau zu halten, und das ›guru-shopping‹, wie es viele Amerikaner betrieben, hasste sie.
Angela Wiederschein hatte Hunger. Sie stand auf, um in die Stadt zu gehen und sich ein annehmbares Restaurant zu suchen. Sie liebte die indische Küche, obwohl ihr die ungewohnte Schärfe der Speisen weiterhin Schwierigkeiten bereitete. Sie musste einen Liter Wasser nach dem anderen trinken, um das Essen zu entschärfen. An sich missfiel ihr aber die oberste Lebensmaxime des Inders: ›Khao, pio, maja karo!‹ – ›Iss, trink, hab Spaß!‹ –, denn sie war nicht nach Indien gekommen, um sich zu vergnügen.
»Namasté!«
Sie ging hinter einem hohen Beamten her, und alle begrüßten ihn mit außerordentlichem Respekt.
»One rupee, please!« Die Bettler hatten sie entdeckt und folgten ihr in froher Erwartung.
Am Straßenrand hockte ein Bauer und entleerte seinen Darm. Im Flugzeug hatten sie gespottet, dass es in Indien gar keine Epidemien geben könne, denn in der alten indischen Heilkunde der Ayurveda kämen Bakterien und Viren nicht vor.
Sie sah das Schild eines Restaurants und änderte ihren Kurs. ›Anand Bhavan‹, das hieß ›Tempel der Glückseligkeit‹. So hätten sie ihr Restaurant in Frohnau nennen sollen und nicht ›à la world-carte‹, dachte sie. In diesem Augenblick dudelte ihr Handy. Es dauerte eine Weile, bis sie es aus ihrem Rucksack gefischt hatte. Aber der Teilnehmer hatte noch nicht aufgegeben.
»Hallo, hier ist Pfarrer Eckel aus Frohnau!«
Angela Wiederschein blieb der Atem weg. »Das darf doch nicht wahr sein!«
»Wieso das?«
»Weil ich in dieser Sekunde gerade an Frohnau gedacht habe, an unser Restaurant, da …«
»Diesen schönen Fall von Gedankenübertragung sollten wir gleich dem Institut für Parapsychologie melden«, sagte Pfarrer Eckel. Sein Spott war verständlich, denn so zufällig war dies alles nicht, weil sie auch in ihrer Bremer Zeit immer engen Kontakt zu ihm gehalten hatte. »Ich wollte Ihnen auch nur sagen, dass der Fall Schulz im Augenblick von der Presse wieder hochgekocht wird, weil der Klütz sein Geständnis widerrufen hat und ein pensionierter Kriminalkommissar hier in Frohnau unterwegs ist und alle ausfragt.«
*
Mannhardt und Orlando erreichten Bremen ohne eine Sekunde Verspätung und überlegten, ob sie das dem Guinness-Buch der Rekorde melden sollten. Um 9.59 Uhr traten sie auf den Bahnhofsplatz, und da ihr Zug zurück nach Berlin um 19.18 Uhr abfuhr, hatten sie mehr als neun Stunden Zeit, um Rainer Wiederschein zu finden und mit ihm über das Damals zu reden. Das Geld für ein Hotelzimmer wollten sie sich sparen.
»Wohin, großer Meister?«, fragte Orlando.
»Zum Schnoor.« Mannhardt hatte in seinem früheren Leben einige Zeit in der Nähe Bremens gewohnt, sodass er sich in der Innenstadt ganz gut auskannte. Außerdem hatte es eine Menge dienstlicher Kontakte gegeben, sodass er ohne Mühe herausbekommen hatte, wo Wiederschein inzwischen arbeitete und wohnte.
Doch ehe sie losgingen, genoss Mannhardt erst einmal den regen Straßenbahnverkehr vor dem Hauptbahnhof. Sechs Gleise gab es hier, und man musste schon höllisch aufpassen, um nicht überrollt zu werden. Das war der Fluch der modernen Technik, dass die Niederflurzüge so leise waren. Ehe man sie hörte, hatten sie einen bereits erfasst.
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