Unterm Kirschbaum
In Berlin gab es immer wieder Tote bei Begegnungen mit der Straßenbahn. Der Linie 8 nach Huchting konnten sie gerade noch ausweichen.
Sie machten sich auf den Weg zum Restaurant, in dem Wiederschein angeheuert hatte. Unter der Hochstraße hindurch kamen sie auf den Herdentorsteinweg, durchquerten die Wallanlagen und erreichten die Sögestraße. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, war ihre Enttäuschung groß, denn der Wirt teilte ihnen mit, dass Wiederschein nicht zur Arbeit erschienen sei.
»Warum das?«, fragte Mannhardt.
»Weil er im Krankenhaus liegt. Verkehrsunfall. Heute Nacht.«
»Wo liegt er denn?«
»Links der Weser.«
Mannhardt war etwas desorientiert. »Ich meine, in welchem Krankenhaus?«
»Das Klinikum heißt so.«
Weiter wollten sie den freundlichen Mann nicht belästigen und fragten an der Domsheide einen Polizisten, wo das Klinikum Links der Weser läge.
»Draußen in Kattenturm.«
»Danke. Und wie kommen wir dorthin?«
»Mit der 4 Richtung Arsten.«
So kam Mannhardt doch noch in den Genuss einer Fahrt mit der Straßenbahn. Als ehemaliger West-Berliner hatte er in dieser Hinsicht einen gewissen Nachholbedarf, denn dort war der Straßenbahnverkehr 1967 eingestellt worden.
Sich zu Rainer Wiederschein durchzufragen, erwies sich als nicht sonderlich einfach, und so waren sie ein wenig erschöpft, als sie schließlich an seinem Krankenbett standen. Es war ein Zweibettzimmer, aber der andere Patient lag gerade auf dem Operationstisch, sodass sie ungestört miteinander reden konnten. Mannhardt stellte sich und seinen Enkel vor und kam etwas zögerlich auf den Grund ihres Besuches zu sprechen.
»Wir wollten Sie in Ihrem Restaurant aufsuchen, Herr Wiederschein, also nicht in Ihrem, sondern in dem, in dem Sie jetzt arbeiten, aber da sagte man uns, dass Sie einen Verkehrsunfall gehabt hätten …?«
Wiederschein zeigte auf seinen Turban. »Ja, ich bin auf der Osterholzer Heerstraße gegen einen Bus gelaufen, aber es geht schon wieder …«
Mannhardt nahm einen neuen Anlauf. »Wir kommen aus Berlin …«
»… und sind sozusagen von einer privaten Mordkommission«, fuhr Wiederschein fort. »Ich weiß. Dem lieben Herrn Klütz ist ja nun eingefallen, dass er meinen Onkel doch nicht umgebracht und bei sich vergraben hat, also muss ich es gewesen sein.«
Mannhardt war überrascht von der Leichtigkeit, mit der Wiederschein die Sache betrachtete. Abgebrüht hätte man früher zu diesem Verhalten gesagt, aber das schien ihm nicht das richtige Adjektiv zu sein. Die Floskel von der Leichtigkeit des Seins traf es wohl besser. Konnte ein Mörder so heiter und gelassen reagieren, wenn man ihn zu überführen suchte? Mannhardt wusste auch nach langen Dienstjahren keine schlüssige Antwort auf diese Frage. Ja, unter Umständen schon, wenn die Verdrängung funktionierte, wenn er seine Tat vor sich selbst hinreichend rechtfertigen konnte, wenn er soziopathische Züge aufwies, nein, wenn ein Mensch so sympathisch und liebenswert war wie dieser Rainer Wiederschein.
Orlando nutzte die Auszeit seines Großvaters, um ein paar Fragen zu stellen. »Sie wissen, dass in Berlin wieder viel über Klütz geredet und geschrieben wird?«
»Ja, von Freunden aus meiner Zeit in Frohnau.«
»Und was sagt Ihre Frau dazu?«
Wiederschein lächelte maliziös. »Keine Ahnung, ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, seit wir geschieden sind.«
»Und wo ist sie abgeblieben, kann man sie mal sprechen?«
»Keine Ahnung.« Wiederschein gab sich gelangweilt. »Sie ist ab ins Esoterische, sich selbst finden und der ganze Humbug, die indische Schiene … Erst war sie bei den Hare-Krishna-Leuten in einem Tempel im Hunsrück, dann ist sie ab nach Indien. Auf Nimmerwiedersehen.«
»Ah, ja«, murmelte Mannhardt. »Und was ist aus Ihrem Haus in Frohnau geworden?«
»Das interessiert mich nicht mehr.« Diesmal klang Wiederschein doch ein wenig bitter. »Das gehört jetzt alles anderen Leuten. Das alte Lied: Schulden, Konkurs, Zwangsversteigerung. Wir sind dann nach Bremen, wo Angela Verwandte hatte, und ich habe als Kellner gearbeitet. Was soll’s? Mein Leben war immer eine Achterbahn, und von nun an geht’s wieder bergauf.«
»Wie das?« Mannhardt kannte nur das Lied von Hildegard Knef, in dem das Gegenteil behauptet wurde.
»Meine Zukunft hat bereits begonnen: Romane, Drehbücher. Ich will mein Glück als Schriftsteller versuchen, und die Verlage reißen sich geradezu um mein erstes Manuskript.« Wiederschein strahlte so,
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