Unterm Kirschbaum
hatte. »Spandau ab: 7.05 Uhr, Bremen an: 9.51 Uhr.«
»Und wie viel Zeit hätten wir zum Umsteigen?«, fragte Mannhardt.
Orlando sah auf seinen Computerausdruck. »17 Minuten.«
Mannhardt schüttelte den Kopf. »Das schaffe ich unmöglich.«
»Was denn, Opa, du schaffst es in Hannover in 17 Minuten nicht vom Gleis 12 zum Gleis 11 – und das ohne Gepäck?«
»Was heißt hier 17 Minuten?«, fragte Mannhardt. »Wenn unser Zug 20 Minuten Verspätung hat, womit ja immer zu rechnen ist, hätte ich minus drei Minuten – und das ist für einen älteren Menschen wie mich wirklich zu wenig.«
»Nicht jeder Zug hat Verspätung«, erklärte Orlando.
»Schön, wie du das sagst, das klingt wirklich verheißungsvoll, aber die Wirklichkeit wird dich mühelos widerlegen.«
Was sie dann tatsächlich tat, wenngleich sie bei der Abfahrt nur fünf Minuten Verspätung hatten, was bei der Bahn per Definition als pünktlich galt. Auf der Fahrt schaute Mannhardt aus dem Fenster und fragte sich, ob das Havelland, flach wie es war, beim Abschmelzen der Eiskappen auch überschwemmt werden würde.
»Schade um den Großen Havelländischen Hauptkanal«, sagte er. »Und schade um Effi Briests Heimat. Aber du bist ja mit deiner Lektüre mehr an der Oder als an der Havel …«
Das bezog sich darauf, dass sein Enkel in diesem Moment in Fontanes ›Unterm Birnbaum‹ blätterte, hoffend, die eine oder andere Parallele zu finden, die sie in der Sache Klütz weiterbringen konnte.
»Ich sehe doch eher die Unterschiede«, sagte er nach einiger Zeit. »Vor allem: Bei Fontane gibt es keinen Klütz.«
»Weil es noch keine Fußballer gab«, stellte Mannhardt fest. »Wie denn auch in den Jahren 1831 bis 1833?«
Orlando fixierte seinen Großvater. »Und deine jahrhundertelange Berufserfahrung sagt dir, dass es unterm Kirschbaum wie unterm Birnbaum war, also wie bei Fontane, dass Wiederschein seinen Onkel ermordet und seine Frau dann als Schulz mit dem Porsche davongefahren ist …?«
»Richtig. Szulski aus Polen gleich Schulz aus Berlin, das ist doch einsichtig genug, Ursel Hradschek gleich Angela Wiederschein.«
»Und Klütz?«
Mannhardt lachte. »Klütz ist nur eine neuzeitliche Arabeske. Heutzutage hätte Fontane auch ans Fernsehen denken müssen, und da macht sich eine zweite Ebene immer gut. Mit einem Fußballprofi, einer Modemacherin, einem Ehedrama.«
»Hm, Wiederschein also.« Orlando blätterte in dem Kommentar, den Helmuth Nürnberger zu Fontanes Roman geschrieben hatte, und zitierte einige Zeilen: »Derjenige ist der Mörder, dem man die Tat eigentlich nicht zutrauen möchte, weil er gewiss nicht die Züge eines Gewaltverbrechers trägt und nur durch die äußeren Umstände zum Täter wird. Es ist das eigentlich Faszinierende an Fontanes Darstellung, wie wenig auffallend der Mörder ist …« Orlando machte eine kleine Pause. »Ich finde aber, dass Wiederschein höchst auffallend ist, ein Weltenbummler, ein Frauenheld, einer, der es zum Sternekoch bringen könnte, wenn er denn wollte, ein Paradiesvogel. Unauffällig ist doch gerade Klütz.«
Mannhardt schüttelte den Kopf. »Aber nicht mit seinen über 100 Bundesligaspielen.«
»Zur Zeit der Tat hat er nur in der Verbandsliga gespielt«, gab Orlando zu bedenken.
»Na schön, aber es gibt faktisch nichts, womit Wiederschein noch zu überführen wäre. Und freiwillig wird er bestimmt nichts gestehen.« Mannhardt machte sich da keinerlei Hoffnungen.
»Dann müssen wir uns eben an seine Frau halten«, sagte Orlando und verwies auf eine entsprechende Stelle im Nachwort: »Der Täter fürchtet nicht sein Gewissen, sondern nur die Entlarvung. Seine Frau aber erträgt den fortgesetzten psychischen Druck nicht; sie siecht dahin, ihre Ruhelosigkeit ist für alle bemerkbar.«
Mannhardt lachte. »Ach, komm, wer heutzutage Angela heißt, der hat doch sein großes Vorbild und ist durch nichts zu erschüttern.«
Orlando ließ sich nicht beirren. »Ich bin zwar kein Kriminalkommissar, aber später als Staatsanwalt Herr des Verfahrens, und so weise ich Sie jetzt an, Herr Mannhardt, Angela Wiederschein als Schlüssel im Fall Klütz zu sehen, denn als Fontane-Fan müssen Sie doch sehen, dass dies der entscheidende Hinweis ist: ›Seine Frau aber erträgt den fortgesetzten psychischen Druck nicht …‹ Sie müssen wir aufs Korn nehmen, wenn ich das anmerken darf.«
*
Angela Wiederschein saß in Allahabad am Ufer des Ganges und murmelte das wichtigste Mantra des tibetanischen
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