Unterm Rad
warmer Wind lief talabwärts. Es dunkelte stark, aber der Himmel war noch licht. Aus dem ganzen dunkelnden Städtchen stieg nur der Kirchturm und das Schloßdach schwarz und scharf in die helle Höhe. Ganz in der Ferne mußte es irgendwo gewittern, man hörte zuweilen ein sanftes, weit entferntes Donnern. Als Hans um zehn Uhr in sein Bett stieg, war er in Kopf und Gliedern so angenehm müde und schläfrig wie schon lange nicht mehr. Eine lange Reihe schöner, freier Sommertage lag beruhigend und verlockend vor ihm, Tage zum Verbummeln,
Verbaden, Verangeln, Verträumen. Bloß das eine wurmte ihn, daß er nicht vollends Erster geworden war.
Schon am frühen Vormittag stand Hans im Öhrn des Stadtpfarrhauses und lieferte seine Fische ab. Der Stadtpfarrer kam aus seiner Studierstube.
»Ach, Hans Giebenrath! Guten Morgen! Ich gratuliere, ich gratuliere von Herzen. - Und was hast du denn da?« »Bloß ein paar Fische. Ich hab' gestern geangelt.« »Ei, da schau her! Danke schön.
Nun komm aber herein.« Hans trat in die ihm wohlbekannte Studierstube. Wie in einer
Pfarrersstube sah es eigentlich hier nicht aus. Es roch weder nach Blumenstöcken noch nach Tabak. Die ansehnliche Büchersammlung zeigte fast lauter neue, sauber lackierte und vergoldete Rücken, nicht die abgeschossenen, schiefen, wurmstichigen und stockfleckigen Bände, die man sonst in Pfarrbibliotheken findet. Wer genauer zusah, merkte auch den Titeln der
wohlgeordneten Bücher einen neuen Geist an, einen andern, als der in den altmodisch
ehrwürdigen Herren der absterbenden Generation lebte. Die ehrenwerten Prunkstücke einer Pfarrbücherei, die Bengel, Oetinger, Steinhofer samt frommen Liedersängern, welche Mörike im
»Turmhahn« so schön besingt, fehlten hier oder verschwanden doch in der Menge moderner
Werke. Alles in allem, samt Zeitschriftenmappen, Stehpult und großem blätterbestreutem
Schreibtisch sah gelehrt und ernst aus. Man bekam den Eindruck, daß hier viel gearbeitet werde.
Und es wurde hier auch viel gearbeitet, freilich weniger an Predigten, Katechesen und
Bibelstunden als an Untersuchungen und Artikeln für gelehrte Journale und an Vorstudien zu eigenen Büchern. Die träumerische Mystik und ahnungsvolle Grübelei war von diesem Ort
verbannt, verbannt war auch die naive Herzenstheologie, welche über die Schlünde der
Wissenschaft hinweg sich der dürstenden Volksseele in Liebe und Mitleid entgegenneigt. Statt dessen wurde hier mit Eifer Bibelkritik getrieben und nach dem »historischen Christus«
gefahndet. Es ist eben in der Theologie nicht anders als anderwärts. Es gibt eine Theologie, die ist Kunst, und eine andere, die ist Wissenschaft oder bestrebt sich wenigstens, es zu sein. Das war vor alters so wie heute, und immer haben die Wissenschaftlichen über den neuen
Schläuchen den alten Wein versäumt, indes die Künstler, sorglos bei manchem äußerlichen Irrtum verharrend, Tröster und Freudebringer für viele gewesen sind. Es ist der alte, ungleiche Kampf zwischen Kritik und Schöpfung, Wissenschaft und Kunst, wobei jene immer recht hat, ohne daß jemand damit gedient wäre, diese aber immer wieder den Samen des Glaubens, der Liebe, des Trostes und der Schönheit und Ewigkeitsahnung hinauswirft und immer wieder guten Boden findet. Denn das Leben ist stärker als der Tod, und der Glaube ist mächtiger als der Zweifel.
Zum erstenmal saß Hans auf dem kleinen Ledersofa zwischen Stehpult und Fenster. Der
Stadtpfarrer war überaus freundlich. Ganz kameradschaftlich erzählte er vom Seminar und wie man dort lebe und studiere. »Das wichtigste Neue«, sagte er zum Schluß, »was du dort erleben wirst, ist die Einführung in das neitastamentliche Griechsich. Es wird dir eine neue Welt damit aufgehen, reich an Arbeit und Freude. Im Anfang wird die Sprache dir Mühe machen; das ist kein attisches Griechisch mehr, sondern ein neues, von einem neuen Geist geschaffenes Idiom.« Hans hörte aufmerksam zu und fühlte sich mit Stolz der wahren Wissenschaft genähert.
»Die schulmäßige Einführung in diese neue Welt«, fuhr der Stadtpfarrer fort, »nimmt ihr natürlich manches von ihrem Zauber. Auch wird dich im Seminar zunächst das Hebräische vielleicht zu einseitig in Anspruch nehmen. Wenn du nun Lust hast, so könnten wir in diesen Ferien einen kleinen Anfang machen. Im Seminar wirst du dann froh sein, Zeit und Kraft für anderes
übrigzubehalten. Wir könnten ein paar Kapitel Lukas zusammen lesen, und du würdest
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