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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Aber ich tu'
    auch erst seit letzten Herbst geigen.« »Es ist gut, Lucius«, rief der Ephorus, »wir danken Ihnen für Ihre Anstrengungen. Lernen Sie nur so weiter. Per aspera ad astra!«
    Am vierundzwanzigsten Dezember war von morgens drei Uhr an Leben und Getöse in allen
    Schlafsälen. An den Fenstern blühten dicke Lagen von feingeblätterten Eisblumen, das
    Waschwasser war eingefroren, und über den Klosterhof strich ein schneidend dünner Frostwind, doch kehrte sich niemand daran. Im Speisesaal dampften die großen Kaffeekübel, und in
    dunklen Gruppen wanderten bald darauf die in Mäntel und Tücher verpackten Schüler über das weiße, schwach leuchtende Feld und durch die schweigende Waldung der weit entfernten
    Bahnstation entgegen. Alle plauderten, machten Witze und lachten laut und waren doch
    nebenher jeder voll seiner verschwiegenen Wünsche, Freuden und Erwartungen. Weit im ganzen Lande, in Städten und Dörfern und auf einsamen Höfen wußten sie in warmen, festgeschmückten Stuben Eltern und Brüder und Schwestern auf sich warten. Es war für die meisten von ihnen die erste Weihnacht, zu der sie aus der Ferne heimreisten, und die meisten wußten, daß man sie mit Liebe und mit Stolz erwartete.
    Auf der kleinen Bahnstation, mitten im verschneiten Walde, wartete man in bitterer Kälte auf den Zug, und man war nie so einmütig, verträglich und lustig beisammen gewesen. Nur Heilner blieb allein und schweigend, und als der Zug da war, wartete er das Einsteigen der Kameraden ab und ging dann allein in einen andern Wagen. Beim Umsteigen am nächsten Bahnhof sah Hans ihn noch einmal, doch ging das flüchtige Gefühl der Beschämung und Reue schnell wieder in der
    Aufregung und Freude der Heimreise unter.
    Zu Hause fand er den Papa schmunzelnd und zufrieden, und ein wohlbesetzter Gabentisch
    erwartete ihn. Ein richtiges Christfest gab es im Hause Giebenrath allerdings nicht. Es fehlte Gesang und Festbegeisterung, es fehlte eine Mutter, es fehlte ein Tannenbaum. Herr Giebenrath verstand die Kunst, Feste zu feiern, nicht. Aber er war stolz auf seinen Buben und hatte an den Geschenken diesmal nicht gespart. Und Hans war es nicht anders gewöhnt, er vermißte nichts.
    Man fand ihn schlecht aussehend, zu mager und zu blaß, und fragte ihn, ob denn im Kloster die Kost so schmal sei. Er verneinte eifrig und versicherte, es gehe ihm gut, nur habe er so oft Kopfweh. Hierüber tröstete ihn der Stadtpfarrer, der in jüngern Jahren selber daran gelitten hatte, und somit war alles gut. Der Fluß war blank gefroren und an den Feiertagen voll von Schlittschuhläufern. Hans war fast den ganzen Tag draußen, in einem neuen Anzug, die grüne Seminaristenmütze auf dem Kopf, seinen ehemaligen Mitschülern weit in eine beneidete höhere Welt hinein entwachsen.

Viertes Kapitel
    Erfahrungsgemäß pflegen sich aus jeder Seminaristenpromotion einer oder mehrere Knaben im Laufe der vier Klosterjahre zu verlieren. Zuweilen stirbt einer weg und wird mit Gesang beerdigt oder mit Freundesgeleite in seine Heimat überführt. Zuweilen macht sich einer gewaltsam los oder wird besonderer Sünden wegen entfernt. Gelegentlich, doch selten und nur in der älteren Klasse, kommt es etwa auch einmal vor, daß irgendein ratloser Junge aus seinen Jugendnöten einen kurzen, dunkeln Ausweg durch einen Schuß oder durch den Sprung in ein Wasser findet.
    Auch der Promotion Hans Giebenraths sollten einige Kameraden verlorengehen, und durch einen sonderbaren Zufall geschah es, daß diese alle der Stube Hellas angehörten. Unter ihren
    Bewohnern war ein bescheidenes blondes Männlein, namens Hindinger, mit Spitznamen Hindu genannt, Sohn eines Schneidermeisters irgendwo in der Allgäuer Diaspora. Er war ein ruhiger Bürger und machte erst durch seinen Weggang ein wenig von sich reden, doch auch da nicht zuviel. Als Pultnachbar des sparsamen Kammervirtuosen Lucius hatte er mit diesem freundlich und bescheidentlich ein wenig mehr als mit den andern Verkehr gehabt, sonst aber keine
    Freunde besessen. Erst als er fehlte, merkte man in Hellas, daß man ihn gern gehabt hatte als einen anspruchslosen, guten Nachbarn und als einen Ruhepunkt im oft erregten Leben der Stube.
    Er schloß sich eines Tages im Januar den Schlittschuhläufern an, die nach dem Roßweiher hinauszogen. Schlittschuhe besaß er nicht, sondern wollte nur einmal zusehen. Doch fror ihn bald, und er stampfte ums Ufer herum, um sich zu erwärmen. Darüber kam er ins Laufen, verlor sich ein

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