Unterm Rad
Wehmutwesen nur ein Ausstoßen überflüssiger und ungesunder Triebe war und eigentlich nicht in Heilners Wesen gehörte, den er treu und aufrichtig bewunderte. Wenn der Freund seine Verse vorlas oder von seinen Dichteridealen redete oder Monologe aus Schiller und Shakespeare mit Leidenschaft und großem Gebärdenspiel vortrug, war es für Hans, als wandle jener kraft einer ihm selber mangelnden Zaubergabe in den Lüften, bewege sich in einer göttlichen Freiheit und feurigen Leidenschaft und entschwebe ihm und seinesgleichen auf geflügelten Sohlen wie ein homerischer Himmelsbote. Bis dahin war ihm die Welt der Dichter wenig bekannt und unwichtig gewesen, nun spürte er zum erstenmal
widerstandslos die trügerische Gewalt schönfließender Worte, täuschender Bilder und
schmeichlerischer Reime, und seine Verehrung für diese ihm neuerschlossene Welt war mit der Bewunderung des Freundes zu einem einzigen Gefühl ineinandergewachsen.
Unterdessen kamen stürmische, dunkle Novembertage, an denen man nur wenige Stunden ohne Lampe arbeiten konnte, und schwarze Nächte, in denen der Sturm große rollende Wolkenberge durch die finstern Höhen trieb und stöhnend oder zankend um die alten festen Klostergebäude stieß. Die Bäume waren nun völlig entlaubt; nur die mächtigen, knorrig verästelten Eichen, die Könige jener baumreichen Landschaft, rauschten noch mit welken Laubkronen lauter und
mürrischer als alle anderen Bäume. Heilner war ganz trübsinnig und liebte es neuerdings, statt bei Hans zu sitzen, allein in einem entlegenen Übungszimmer auf der Geige zu stürmen oder mit den Kameraden Händel anzufangen.
Eines Abends, da er jenes Zimmer aufsuchte, fand er den strebsamen Lucius dort vor einem Notenpult mit Üben beschäftigt. Ärgerlich ging er weg und kam nach einer halben Stunde wieder.
Jener übte noch immer. »Du könntest jetzt aufhören«, schimpfte Heilner. »Es gibt auch noch andere Leute, die üben wollen. Deine Kratzerei ist ohnehin eine Landplage.«
Lucius wollte nicht weichen, Heilner wurde grob, und als der andere sein Kratzen ruhig
wiederaufnahm, stieß er ihm das Notengestell mit einem Fußtritt um, daß die Blätter ins Zimmer stoben und das Pult dem Geiger ins Gesicht schlug. Lucius bückte sich nach den Noten.
»Das sag' ich dem Herrn Ephorus«, sagte er entschieden. »Gut«, schrie Heilner wütend, »so sag ihm auch gleich, ich hätte dir einen Hundstritt gratis dreingegeben.« Und er wollte sogleich zur Tat schreiten.
Lucius sprang fliehend beiseite und gewann die Tür. Sein Verfolger setzte ihm nach, und es entstand ein hitziges und geräuschvolles Jagen durch Gänge und Säle, über Treppen und Flure bis in den fernsten Flügel des Klosters, wo in stiller Vornehmheit die Ephoruswohnung lag.
Heilner erreichte den Flüchtling erst knapp vor der Studierzimmertür des Ephorus, und als jener schon angeklopft hatte und in der offenen Türe stand, erhielt er im letzten Augenblick noch den versprochenen Fußtritt und fuhr, ohne mehr die Tür hinter sich schließen zu können, wie eine Bombe ins Allerheüigste des Herrschers. Das war ein unerhörter Fall. Am nächsten Morgen hielt der Ephorus eine glänzende Rede über die Entartung der Jugend, Lucius hörte tiefsinnig und beifällig zu, und Heilner bekam eine schwere Karzerstrafe diktiert.
»Seit mehreren Jahren«, donnerte der Ephorus ihn an, »ist eine solche Sache hier nicht mehr vorgekommen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie noch in zehn Jahren daran denken sollen. Euch andern stelle ich diesen Heilner als abschreckendes Beispiel auf.«
Die ganze Promotion schielte scheu zu ihm hinüber, der blaß und trotzig dastand und dem Blick des Ephorus nicht auswich. Im stillen bewunderten ihn viele, trotzdem blieb er am Ende der Lektion, als alles lärmend die Gänge erfüllte, allein und gemieden wie ein Aussätziger. Es gehörte Mut dazu, jetzt zu ihm zu stehen.
Auch Hans Giebenrath tat es nicht. Es wäre seine Pflicht gewesen, das fühlte er wohl, und er litt am Gefühl seiner Feigheit. Unglücklich und schamhaft drückte er sich in ein Fenster und wagte nicht aufzublicken. Es trieb ihn, den Freund aufzusuchen, und er hätte viel darum gegeben, es unbemerkt tun zu können. Aber ein mit schwerem Karzer Bestrafter ist im Kloster für längere Zeit so gut wie gebrandmarkt. Man weiß, daß er von nun an besonders beobachtet wird und daß es gefährlich ist und einen schlechten Ruf einträgt, mit ihm Verkehr zu haben. Den Wohltaten, welche
Weitere Kostenlose Bücher