Unterm Rad
der Staat seinen Zöglingen erweist, muß eine scharfe, strenge Zucht entsprechen, das war schon in der großen Rede beim Eintrittsfeste vorgekommen. Auch Hans wußte das. Und er unterlag im Kampf zwischen Freundespflicht und Ehrgeiz. Sein Ideal war nun einmal,
vorwärtszukommen, berühmte Examina zu machen und eine Rolle zu spielen, aber keine
romantische und gefährliche. So verharrte er ängstlich in seinem Winkel. Noch konnte er hervortreten und tapfer sein, aber von Augenblick zu Augenblick wurde es schwerer, und eh er sich's versah, war sein Verrat zur Tat geworden.
Heilner bemerkte es wohl. Der leidenschaftliche Knabe fühlte, wie man ihm auswich, und begriff es, aber auf Hans hatte er sich verlassen. Neben dem Weh und der Empörung, die er jetzt empfand, kamen ihm seine bisherigen, inhaltlosen Jammergefühle leer und lächerlich vor. Einen Augenblick blieb er neben Giebenrath stehen. Er sah blaß und hochmütig aus und sagte leise:
»Du bist ein gemeiner Feigling, Giebenrath - pfui Teufel!« Und damit ging er weg, halblaut pfeifend und die Hände in den Hosensäcken.
Es war gut, daß andere Gedanken und Beschäftigungen die jungen Leute in Anspruch nahmen.
Wenige Tage nach jenem Ereignis trat plötzlich Schneefall, dann frostklares Winterwetter ein, man konnte schneeballen und Schlittschuh laufen, und alle merkten nun auch plötzlich und sprachen davon, daß Weihnachten und Ferien vor der Tür standen. Heilner wurde weniger
beachtet. Er ging still und trotzig mit aufrechtem Kopf und hochmütigem Gesicht umher, sprach mit niemand und schrieb häufig Verse in ein Schreibheft, das einen Umschlag von schwarzem Wachstuch hatte und die Aufschrift »Lieder eines Mönches« trug.
An den Eichen, Erlen, Buchen und Weiden hing Reif und gefrorener Schnee in zarten,
phantastischen Gebilden. Auf den Weihern knisterte im Frost das klare Eis. Der Kreuzganghof sah wie ein stiller Marmorgarten aus. Eine frohe, festliche Erregung ging durch die Stuben, und die weihnachtliche Vorfreude gab sogar den beiden tadellosen, gemessenen Professoren einen kleinen Glanz von Milde und heiterer Aufregung ab. Unter Lehrern und Schülern war keiner, den Weihnachten gleichgültig ließ, auch Heilner begann weniger verbissen und elend auszusehen, und Lucius überlegte, welche Bücher und welches Paar Schuhe er in die Ferien mitnehmen solle. In den von Hause
kommenden Briefen standen
schöne, ahnungsvolle
Dinge: Fragen nach
Lieblingswünschen, Berichte von Backtagen, Andeutung bevorstehender Überraschungen und
Freude aufs Wiedersehen.
Vor der Ferienreise erlebte die Promotion und insbesondere die Stube Hellas noch eine kleine heitere Geschichte. Es war beschlossen worden, die Lehrerschaft zu einer abendlichen
Weihnachtsfeier einzuladen, welche in Hellas, als der größten Stube, stattfinden sollte. Eine Festrede, zwei Deklamationen, ein Flötensolo und ein Geigenduo waren vorbereitet. Nun sollte aber durchaus auch noch eine humoristische Nummer aufs Programm. Man beriet und
verhandelte, machte und verwarf Vorschläge, ohne einig zu werden. Da sagte Karl Hamel so nebenher, das Heiterste wäre eigentlich ein Violinsolo von Emil Lucius. Das zog. Durch Bitten, Versprechungen und Drohungen brachte man den unglücklichen Musikanten dazu, daß er sich hergab. Und nun stand auf dem Programm, das mit einer höflichen Einladung den Lehrern
zugeschickt wurde, als besondere Nummer: »Stille Nacht, Lied für Violine, vorgetragen von Emil Lucius, Kammervirtuos.« Letzteren Titel verdankte er seinem fleißigen Üben in jener abgelegenen Musikstube. Ephorus, Professoren, Repetenten, Musiklehrer und Oberfamulus waren eingeladen und erschienen zur Feier. Dem Musiklehrer trat der Schweiß auf die Stirne, als Lucius in einem von Hartner geborgten schwarzen Rock mit Schößen auftrat, frisiert und gebügelt, mit seinem sanft bescheidenen Lächeln. Schon seine Verbeugung wirkte wie eine Aufforderung zur
Heiterkeit. Aus dem Lied »Stille Nacht« wurde unter seinen Fingern eine ergreifende Klage, ein stöhnendes, schmerzvolles Lied des Leides; er begann zweimal, zerriß und zerhackte die
Melodie, trat den Takt mit dem Fuß und arbeitete wie ein Waldarbeiter bei Frostwetter.
Fröhlich nickte der Herr Ephorus dem Musiklehrer zu, der vor Entrüstung blaß geworden war.
Als Lucius das Lied zum drittenmal begonnen hatte und auch diesmal steckenblieb, ließ er die Geige sinken, wandte sich gegen die Zuhörer und entschuldigte sich: »Es geht nicht.
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