Unterm Rad
verbargen wie Nixen, die für Augenblicke von der Oberfläche eines Gewässers verschwinden und es regungslos und scheinbar unbelebt liegen lassen. Wenn zwei miteinander von dem Ertrunkenen sprachen, so nannten sie stets seinen vollen Namen, denn dem Toten gegenüber kam ihnen der Spitzname Hindu unwürdig vor. Und
der stille Hindu, der sonst unbemerkt und unberufen in der Schar verschwunden war, erfüllte nun das ganze große Kloster mit seinem Namen und seinem Gestorbensein. Am zweiten Tage kam
der Vater Hindinger an, blieb ein paar Stunden allein in dem Stüblein, wo sein Knabe lag, wurde dann vom Ephorus zum Tee eingeladen und übernachtete im Hirschen.
Dann kam das Begräbnis. Der Sarg stand im Dorment aufgestellt, und der Allgäuer Schneider stand dabei und sah allem zu. Er war eine rechte Schneidersfigur, entsetzlich mager und spitzig, und trug einen grünlich spielenden schwarzen Bratenrock und enge dürftige Hosen, in der Hand einen veralteten Festhut. Sein kleines, dünnes Gesicht sah bekümmert, traurig und schwächlich aus, wie ein Kreuzerlichtlein im Wind, und er war in einer fortwährenden Verlegenheit und Hochachtung vor dem Ephorus und den Herren Professoren. Im letzten Augenblick, ehe die
Träger den Sarg aufnahmen, trat das traurige Männlein noch einmal vor und berührte den
Sargdeckel mit einer verlegenen und schüchternen Gebärde der Zärtlichkeit. Dann blieb er hilflos stehen, mit den Tränen kämpfend, und stand mitten in dem großen, stillen Raum wie ein dürres Bäumlein im Winter, so verlassen und hoffnungslos und preisgegeben, daß es ein Jammer zu sehen war. Der Pfarrer nahm ihn an der Hand und blieb bei ihm, da setzte er seinen phantastisch geschweiften Zylinder auf und lief als Vorderster dem Sarge nach, die Treppe hinunter, über den Klosterhof, durchs alte Tor und übers weiße Land der niedern Kirchhofmauer entgegen. Während am Grabe die Seminaristen einen Choral sangen, blickten zum Verdruß des dirigierenden
Musiklehrers die meisten nicht auf seine taktierende Hand, sondern auf die einsame, windige Gestalt des kleinen Schneidermeisters, welcher traurig und verfroren im Schnee stand und mit gesenktem Kopf die Reden des Geistlichen und des Ephorus und des Primus mit anhörte, den singenden Schülern gedankenlos zunickte und zuweilen mit der Linken nach dem im Rockschoß verborgenen Taschentuch angelte, ohne es aber herauszuziehen.
»Ich hab' mir vorstellen müssen, wie das wäre, wenn an seiner Stelle mein eigener Papa so dagestanden wäre«, sagte Otto Hartner nachher. Da stimmten alle ein: »Ja, ganz das gleiche hab'
ich auch gedacht.«
Später kam der Ephorus mit Hindingers Vater auf die Stube Hellas. »Ist einer von Ihnen mit dem Verstorbenen besonders befreundet gewesen?« fragte der Ephorus in die Stube hinein. Zuerst meldete sich niemand, und Hindus Vater blickte ängstlich und elend in die jungen Gesichter.
Dann kam aber Lucius hervor, und Hindinger nahm seine Hand, hielt sie eine kleine Weile fest, wußte aber nichts zu sagen und ging bald mit einem demütigen Kopfnicken wieder hinaus.
Darauf reiste er ab und hatte einen ganzen langen Tag durchs helle Winterland zu fahren, ehe er heimkam und seiner Frau erzählen konnte, an was für einem Örtlein ihr Karl nun liege.
Im Kloster war der Bann bald wieder gebrochen. Die Lehrer schalten wieder, die Türen wurden wieder zugeschlagen, und dem verschwundenen Hellenen wurde wenig nachgedacht. Einige
hatten sich beim langen Stehen an jenem traurigen Weiher erkältet und lagen auf der
Krankenstube oder liefen mit Filzpantoffeln und verbundenen Hälsen herum. Hans Giebenrath war an Hals und Füßen unbeschädigt geblieben, sah aber seit dem Unglückstage ernster und älter aus. Es war irgend etwas in ihm anders geworden, ein Jüngling aus einem Knaben, und seine Seele war gleichsam in ein anderes Land versetzt, wo sie ängstlich und unheimisch
umherflatterte und noch keine Rastplätze kannte. Daran war weder der Todesschrecken noch die Trauer um den guten Hindu schuld, sondern lediglich das plötzlich erwachte Bewußtsein seiner Schuld gegen Heilner. Dieser lag mit zwei andern auf der Krankenstube, mußte heißen Tee schlucken und hatte Zeit, seine beim Tode Hindingers empfangenen Eindrücke zu ordnen und etwa zum späteren dichterischen Gebrauch zurechtzulegen. Doch schien ihm daran wenig
gelegen, er sah vielmehr elend und leidend aus und wechselte mit seinen Krankheitsgenossen kaum ein Wort. Die seit seiner
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