Unterm Rad
Karzerstrafe ihm aufgezwungene Vereinsamung hatte sein
empfindliches und häufiger Mitteilung bedürftiges Gemüt verwundet und bitter gemacht. Die Lehrer beaufsichtigten ihn als einen unzufriedenen und revolutionären Kopf mit Strenge, die Schüler mieden ihn, der Famulus behandelte ihn mit spöttischer Gutmütigkeit, und seine Freunde Shakespeare, Schiller und Lenau zeigten ihm eine andere, mächtigere und großartigere Welt, als die war, die ihn drückend und demütigend umgab. Aus seinen »Mönchsliedern«, welche anfangs nur auf einen einsiedlerisch schwermütigen Ton gestimmt gewesen waren, wurde allmählich eine Sammlung bitterer und gehässiger Verse auf Kloster, Lehrer und Mitschüler. Er fand in seiner Vereinsamung einen sauren Märtyrergenuß, fühlte sich mit Genugtuung unverstanden und kam sich in seinen schonungslos despektierlichen Mönchsversen vor wie ein kleiner Juvenal. Acht Tage nach dem Begräbnis, als die beiden Kameraden genesen waren und Heilner allein noch im Krankenzimmer lag, besuchte ihn Hans. Er grüßte schüchtern, trug einen Stuhl ans Bett, setzte sich und griff nach der Hand des Kranken, der sich unwillig gegen die Wand kehrte und ganz unzugänglich schien. Aber Hans ließ sich nicht abweisen. Er hielt die ergriffene Hand fest und zwang seinen ehemaligen Freund, ihn anzusehen. Dieser verzog ärgerlich die Lippen. »Was willst du eigentlich?« Hans ließ seine Hand nicht los. »Du mußt mich anhören«, sagte er. »Ich bin damals feig gewesen und ließ dich im Stich. Aber du weißt, wie ich bin: es war mein fester Vorsatz, im Seminar obenan zu bleiben und womöglich vollends Erster zu werden. Du hast das Streberei genannt, meinetwegen mit Recht; aber es war nun eben meine Art von Ideal, ich wußte nichts Besseres.«
Heilner hatte die Augen geschlossen, und Hans fuhr ganz leise fort: »Sieh du, es tut mir leid. Ich weiß nicht, ob du noch einmal mein Freund sein willst, aber verzeihen mußt du mir.« Heilner schwieg und tat die Augen nicht auf. Alles Gute und Freudige in ihm lachte dem Freund
entgegen, doch hatte er sich nun an die Rolle des Herben und Einsamen gewöhnt und behielt wenigstens die Maske davon einstweilen vor dem Gesicht. Hans ließ nicht nach.
»Du mußt, Heilner! Ich will lieber Letzter werden, als noch länger so um dich herumlaufen. Wenn du willst, so sind wir wieder Freunde und zeigen den anderen, daß wir sie nicht brauchen.« Da erwiderte Heilner den Druck seiner Hand und schlug die Augen auf.
Nach einigen Tagen verließ auch er das Bett und die Krankenstube, und es entstand im Kloster keine geringe Aufregung über die neugebackene Freundschaft. Für die beiden aber kamen nun wunderliche Wochen, ohne eigentliche Erlebnisse, aber voll eines seltsam beglückenden Gefühls der Zusammengehörigkeit und eines wortlosen, heimlichen Einverständnisses. Es war etwas anderes als früher. Die wochenlange Trennung hatte beide verändert. Hans war zärtlicher, wärmer, schwärmerischer geworden; Heilner hatte ein kraftvolleres, männlicheres Wesen
angenommen, und beide hatten einander in der letzten Zeit so sehr vermißt, daß ihnen ihre Wiedervereinigung wie ein großes Erlebnis und köstliches Geschenk vorkam. Beide frühreifen Knaben kosteten in ihrer Freundschaft mit ahnungsvoller Scheu etwas von den zarten
Geheimnissen einer ersten Liebe unwissend voraus. Dazu hatte ihr Bündnis den herben Reiz der reifenden Männlichkeit und als ebenso herbe Würze das Trotzgefühl gegen die Gesamtheit der Kameraden, denen Heilner unliebsam und Hans unverständlich blieb und
deren zahlreiche Freundschaften damals alle noch harmlose Knabenspielereien waren.
Je inniger und glücklicher Hans an seiner Freundschaft hing, desto fremder wurde ihm die Schule.
Das neue Glücksgefühl ging brausend wie ein junger Wein durch sein Blut und durch seine Gedanken, daneben verlor Livius so gut wie Homer seine Wichtigkeit und seinen Glanz. Die Lehrer aber sahen mit Schrecken den bisherigen tadellosen Schüler Giebenrath in ein
problematisches Wesen verwandelt und dem schlimmen Einfluß des verdächtigen Heilner
unterlegen. Vor nichts graut Lehrern so sehr wie vor den seltsamen Erscheinungen, die am Wesen früh entwickelter Knaben in dem ohnehin gefährlichen Alter der beginnenden
Jünglingsgärung hervortreten. An Heilner war ihnen ohnehin von jeher ein gewisses Geniewesen unheimlich - zwischen Genie und Lehrerzunft ist eben seit alters eine tiefe Kluft befestigt, und was von solchen Leuten
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