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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Stück weit über Feld und geriet an einen anderen kleinen See, der seiner wärmeren und stärkeren Quellen wegen nur schwach überfroren war. Er trat durchs Schilf hinüber. Dort brach er, so klein und leicht er war, nahe beim Ufer ein, wehrte sich und schrie noch eine kleine Weile und sank dann unbemerkt in die dunkle Kühle hinunter. Erst als um zwei Uhr die erste
    Nachmittagslektion begann, wurde sein Fehlen bemerkt. »Wo ist Hindinger?« rief der Repetent.
    Niemand gab Antwort. »Sehen Sie in Hellas nach!«
    Aber dort war keine Spur von ihm.
    »Er wird sich verspätet haben, lassen Sie uns ohne ihn beginnen. Wir stehen Seite vierundsiebzig, Vers sieben. Ich bitte mir aber aus, daß so etwas nicht wieder vorkommt. Sie haben pünktlich zu sein!«
    Als es drei Uhr schlug und Hindinger noch immer fehlte, bekam der Lehrer Angst und schickte zum Ephorus. Dieser erschien sogleich höchstselber im Lehrsaal, stellte ein großes Fragen an und schickte alsdann zehn Schüler unter Begleitung des Famulus und eines Repetenten auf die Suche. Den Zurückbleibenden wurde eine schriftliche Übung diktiert. Um vier Uhr trat der Repetent, ohne anzuklopfen, in den Hörsaal und erstattete dem Ephorus im Flüsterton Bericht.
    »Stille!« gebot der Ephorus, und die Schüler saßen regungslos in den Bänken und sahen ihn erwartungsvoll an. »Ihr Kamerad Hindinger«, fuhr er leiser fort »scheint in einem Weiher ertrunken zu sein. Sie müssen nun helfen, ihn zu suchen. Herr Professor Meyer wird Sie führen, Sie haben ihm pünktlich und wörtlich zu folgen und keinerlei eigenmächtige Schritte dabei zu tun.«
    Erschrocken und flüsternd brach man auf, den Professor an der Spitze. Vom Städtchen stießen ein paar Männer mit Seilen, Latten und Stangen zu dem eiligen Zuge. Es war bitter kalt, und die Sonne stand schon am Rande der Wälder. Und als endlich der kleine steife Körper des Knaben gefunden war und in den verschneiten Binsen auf eine Trage gelegt wurde, war schon tiefe Dämmerung. Die Seminaristen standen wie scheue Vögel ängstlich umher, starrten auf die Leiche und rieben sich ihre blauen, steifgewordenen Finger. Und erst als der ertrunkene Kamerad vor ihnen hergetragen ward und sie ihm schweigend über die Schneefelder nachfolgten, wurden plötzlich ihre beklommenen Seelen von einem Schauder berührt und witterten den grimmigen Tod wie Rehe den Feind. In dem kläglichen, frierenden Häuflein schritt Hans Giebenrath zufällig neben seinem gewesenen Freunde Heilner. Beide bemerkten die Nachbarschaft im gleichen
    Augenblick, da sie über dieselbe Unebenheit des Feldes gestolpert waren. Es mochte sein, daß der Anblick des Todes ihn überwältigt und für Augenblicke von der Nichtigkeit aller Selbstsucht überzeugt hatte, jedenfalls fühlte Hans, als er unvermutet des Freundes bleiches Gesicht so nahe erblickte, einen unerklärten tiefen Schmerz und griff in plötzlicher Regung nach des andern Hand. Heilner entzog sie ihm unwillig und blickte beleidigt beiseite, suchte auch sogleich einen andern Platz und verschwand in die hintersten Reihen des Zuges.
    Da schlug dem Musterknaben Hans das Herz in Weh und Scham, und er konnte nicht hindern, daß ihm, während er auf dem gefrorenen Felde stolpernd weitermarschierte, Träne um Träne über die frostblauen Backen lief. Er begriff, daß es Sünden und Versäumnisse gibt, die man nicht vergessen kann und die keine Reue gutmacht, und es kam ihm vor, als liege nicht der kleine Schneiderssohn, sondern sein Freund Heilner vorn auf der erhöhten Bahre und nehme den
    Schmerz und Zorn über seine Untreue weit in eine andere Welt mit sich hinüber, wo man nicht nach Zeugnissen und Examen und Erfolgen rechnet, sondern allein nach der Reinheit oder
    Befleckung des Gewissens.
    Inzwischen war man auf die Landstraße gelangt und kam rasch vollends ins Kloster, wo alle Lehrer, den Ephorus an der Spitze, den toten Hindinger empfingen, der im Leben vor dem bloßen Gedanken an eine solche Ehre davongelaufen wäre. Einen toten Schüler blicken die Lehrer stets mit ganz ändern Augen an als einen lebenden, sie werden dann für einen Augenblick vom Wert und von der Unwiederbringlichkeit jedes Lebens und jeder Jugend überzeugt, an denen sie sich sonst so häufig sorglos versündigen.
    Auch am Abend und am ganzen folgenden Tage wirkte die Anwesenheit der unscheinbaren
    Leiche wie ein Zauber, milderte, dämpfte und umflorte alles Tun und Reden, so daß für diese kurze Zeit Hader, Zorn, Lärm und Lachen sich

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